G8-Reform:"Danach bist du platt"

Schüler ächzen unter Lerndruck - Pädagogen klagen über einseitige Lehrpläne und schlechtere Noten.

Anne Goebel

Neulich gab es ein Konzert in der neuen Mensa des Gymnasiums Vilsbiburg. Ein Violinist war zu Gast, und alle lobten die Akustik des Saals. In dem Anbau, der Blick geht durch große Fenster auf die Felder, wird mittags Essen ausgegeben. "Herkulessaalmäßig", fand ein Deutschlehrer, sei die Klangqualität gewesen. Das ist eine erfreuliche Bereicherung, und womöglich hat damit niemand gerechnet, als die Mensa gebaut werden musste wegen der Nachmittagsstunden des G 8. Andererseits ist das mit dem Konzertsaal anscheinend die einzige positive Begleiterscheinung der verkürzten Gymnasialzeit. Das ist zumindest der Eindruck, den man mitnimmt nach Gesprächen am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg, Niederbayern. Es entspricht dem, was die Schüler der 8. Klasse dort gerade im Deutschunterricht zu Papier gebracht haben. Begründete Stellungnahme, Thema: "Die Vor- oder die Nachteile des G 8." Dafür hat kein einziger geschrieben.

G8-Reform: Schüler ächzen unter Lerndruck - Pädagogen klagen über einseitige Lehrpläne und schlechtere Noten.

Reform ohne Rücksicht auf die Kinder? Viele haben keine Zeit mehr für Musik oder Sport am Nachmittag.

(Foto: Foto: iStockphoto)

"G 8: Das neue achtjährige Gymnasium in Bayern": Mit einer Broschüre hat die damalige Kultusministerin Monika Hohlmeier im April 2004 die anstehenden Veränderungen durch die Reform dargelegt. Im Schuljahr 2004/05 startete die Neuregelung des gymnasialen Betriebs, und es galt, die Beteiligten vorzubereiten: Schüler, Lehrer, Eltern. Seither ist viel geredet worden über das umstrittene Projekt. Das Konzept: Um bayerische Absolventen wettbewerbsfähig zu machen "in unserer globalen Welt" (Ministerpräsident Edmund Stoiber) müsse der Berufseinstieg früher erfolgen. Gleichbleibende Abiturqualität bei reduzierter Schulzeit werde durch überarbeitete, entschlackte Lehrpläne sowie zusätzliche Unterrichts- und Intensivierungsstunden nachmittags erreicht. 2011 macht der erste Jahrgang Abitur.

Die Beurteilungen des G 8 seitens der Schulen, vor allem der Eltern fielen und fallen meist negativ aus: Überlastung der Kinder, kaum Zeit für Außerschulisches. Dass der zuständige Minister Siegfried Schneider gerade eine positive Bilanz gezogen hat, kommt nicht überraschend. "Das achtjährige Gymnasium hat sich bewährt", heißt es bündig aus dem Kultusministerium. An den Gymnasien scheint sich so etwas wie entnervtes Akzeptieren eingestellt zu haben. "Wir müssen in ruhiges Fahrwasser" heißt es, und: "Lässt sich ohnehin nichts mehr machen."

In Vilsbiburg sitzt Josef Kraus am Schreibtisch und sieht nicht aus wie einer, der resigniert hat. Der Direktor des Montgelas-Gymnasiums wirkt, als wolle er Bäume ausreißen, ob es um den neuen Pausenhof geht oder die nächste Notenkonferenz. Seine Haltung zum G 8 ist dezidiert, klar formuliert, was auch daran liegt, dass er sie als Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbands oft äußert. "Ich sehe die Idee des Gymnasiums ausgehöhlt", sagt Kraus, an dessen Haus 850 Schüler unterrichtet werden. Es dürfe an einer Oberschule nicht nur - wie im komprimierten, naturwissenschaftlich ausgerichteten G-8-Lehrplan - um messbare Ergebnisse gehen. "Wichtig ist nur noch, was nützlich, verwertbar ist", sagt Kraus. Ihm liege auch die musische, ästhetische, historische Erziehung am Herzen, auf deren Kosten der Weg zum Abitur verkürzt worden sei.

"Danach bist du platt"

"Das Heranreifen einer Persönlichkeit lässt sich nicht x-beliebig beschleunigen", sagt der Direktor, zitiert Nietzsche ("Wir hängen am Pflock der Ökonomie!") und steht am Ende kopfschüttelnd vor einer Landkarte. Mehr als die Hälfte der Schüler kommt von außerhalb per Überlandbus. Das dauert. Bei Nachmittagsunterricht - das gilt, mindestens einmal wöchentlich, ab der sechsten Klasse - "sind sie bis zu zehn Stunden außer Haus. Und das als Zwölfjährige."

Die Schülergruppe, die derweil in der Mensa vor ihren Tellern sitzt, macht ihrem Ärger ohne Nietzsche Luft. Maximilian Hirsch und seine Freunde gehen in die achte Klasse, zweimal hat Maximilian Nachmittagsunterricht. "Wenn ich um fünf Uhr heimkomme, lege ich mich nur noch hin. Da geht nichts mehr." Den Saxophonunterricht will er nicht aufgeben, obwohl er dafür mittwochs um halb vier nach Hause hastet und nach einer Viertelstunde wieder aufbricht. Er hat Angst, dass seine Schwächen in Latein und Physik sich fortsetzen, ihm fehlt Ruhe für konzentriertes Nacharbeiten.

Die anderen nicken. Xaver, seit neun Jahren Spieler des SC Bodenkirchen, wird mit dem Fußball aufhören. "Zweimal Training pro Woche schaff ich nicht mehr." Die freien Nachmittage vollgepackt mit Hausaufgaben, nach dem langen Schultag reiche die Motivation gerade für Fernsehen und Computerspiele, sagt einer. Das ist es wohl, was Kraus mit Mangel an "unverplanter Zeit" meint. Kein Raum für Interessen. Seine Zwölftklässler, sagt er, "bedauern die Kleinen". Er selbst merkt die Auswirkungen am Schulorchester: "Der Nachwuchs bricht weg."

Ein paar Tische weiter sitzt der Deutschlehrer Heiner Feldkamp, Klassenleiter einer Siebten. Er kann nichts Gutes berichten und sagt: "Die Schüler sind verausgabter." Vor allem die zweite Fremdsprache ab der sechsten Klasse gehe an die Kondition. Sein Fachkollege Franz Filser bedauert den Rückgang der Literatur, der eigenen "Fantasieerzählung" im Lehrplan zugunsten sachlicher Formen wie Protokoll. Er umschiffe das, "indem ich Protokolle über ein Gedicht schreiben lasse". Solche Tricks sind bei Kerstin Sube schwierig. Sie unterrichtet Physik - seit G 8 "Natur und Technik" - und sagt: "Die Noten werden schlechter." Viele Schüler seien überfordert von der Verlagerung anspruchsvollen Stoffs in untere Klassen. "Sie müssen sich durchlavieren, sogar bei einer Vier heißt es: ,Passt schon". Das kann nicht sein."

Es gibt aber die guten Nachrichten aus dem Kultusministerium, steigende Zahl der Übertritte aufs Gymnasium, sinkende Zahl der Wiederholer. Und, ziemlich spät, die Richtlinien, wie es weitergehen soll in der G-8-Oberstufe. "Bisher haben wir bezüglich Abitur ins Blaue unterrichtet", sagt Sube. In der Mensa von Vilsbiburg scheinen die Erfolgsmeldungen weit weg zu sein. Hier ist es eher so, dass man sich durchkämpft und zusammenhält. Eli, einer aus der Gruppe um Maximilian, würde denen im Ministerium gern sagen: "Ihr habt's vergessen, euch in uns 'reinzuversetzen." Wahrscheinlich ist viel Wahres daran.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: