Führungsspitzen:Chef-Coaching im Knast

Jörg Kachelmann umarmte nach seiner Freilassung einen Bewacher - und pries damit dessen Führungsqualitäten. Vom Leben im Gefängnis können auch Chefs etwas lernen - viele Angestellten fühlen sich schon lange wie Häftlinge.

Alexandra Borchardt

Hätte man nicht zu viele Bilder dieses Ereignisses gesehen, jenes eine könnte einen rühren. Jörg Kachelmann, Wetterbeobachter, kommt nach vier Monaten aus der Untersuchungshaft frei und umarmt zum Abschied seinen Bewacher. So, als falle es ihm schwer, den Ort seiner Gefangenschaft zu verlassen. Das Ganze ließe sich als eine milde Art von Stockholm-Syndrom abschreiben; jenes Phänomens also, das Geiseln befällt, die sich aus Selbstschutz in ihre Peiniger verlieben. Aber vermutlich ist die Erklärung einfacher: Der Mann hat Kachelmann etwas Gutes getan; er wird ihn als Mensch behandelt haben - mit Respekt.

Sicherungsverwahrung

Justizvollzugsbeamte sind wie Chefs, die eine Schar von Mitarbeitern der komplizierteren Sorte zu führen haben.

(Foto: dpa)

Man könnte diesen Justizvollzugsbeamten auch als eine Art Chef betrachten; einen, der eine Schar von Mitarbeitern der komplizierteren Sorte zu führen hat. Dafür bekommt er keine Prämie, hat keine 360-Grad-Beurteilung zu fürchten und muss einige Bilder im Kopf ausblenden, um bestimmten Insassen einigermaßen unbefangen zu begegnen. Und ohne ihn zu kennen, bewundert man diesen Chef. Denn offensichtlich versteht er es, unter schwierigen Bedingungen Untergebene an sich zu binden.

Nun unterscheidet sich das Arbeitsleben der meisten Berufsmenschen doch noch von jenem im Gefängnis. Zumindest können sie abends vor den Büroturm oder das Fabriktor treten, die Rolle des Insassen abstreifen und jene der Freundin, des Vaters, des Fußballkumpels oder Modellbahnvereinsmitglieds einnehmen, während der Häftling 24 Stunden lang Häftling bleibt.

Protokolle von Burn-out-Patienten offenbaren allerdings, dass immer mehr Beschäftigte den Job als genau das erleben: einen großen Knast. Der ist zwar häufig selbst gebaut - aus allzu strengen Erwartungen an die eigene Leistung. Oft aber ist er auch mit Wärtern bemannt, denen die Betroffenen keine Kachelmann'sche Umarmung zukommen lassen würden, sollten sie ihn denn einmal verlassen.

Nun muss jemand nicht einmal Fernsehmensch sein, um beim ersten Interview nach einer traumatischen Erfahrung ein wenig ins Fabulieren zu kommen. Aber was Kachelmann dem Nachrichtenmagazin Spiegel über seinen Gefängnisaufenthalt erzählt hat, lehrt tatsächlich ein paar Dinge über Führung.

Zuerst: Mitarbeiter brauchen Freiheitsgrade. Kachelmann war die Option Ausstieg verwehrt - so wie kaum ein Beschäftigter einfach seinen Job verlassen kann, wenn er ihm stinkt. Aber mit Akribie beschreibt der Ex-Häftling, wie gut es war, Putzmittel und Post zu verteilen und Klos zu putzen, damit er sich eine "eingeschränkte Innenlockerung" sichern konnte, sprich: Er durfte tagsüber auf den Flur. Eine Aufgabe und ein bisschen Freiheit im Knast, ein Geschenk.

Der Alltag in der Haft hat offenbar mehrere jener zwölf Bedingungen erfüllt, die von der Gallup-Organisation bei ihrer Erhebung als Gradmesser für Arbeitszufriedenheit abgefragt werden. Zum Beispiel: "Weiß ich, was bei der Arbeit von mir erwartet wird?" (Klos putzen, Post verteilen.) "Habe ich die Materialien und Arbeitsmittel, um meine Arbeit richtig zu machen?" (Hände, Klobürste.) "Interessiert sich mein Vorgesetzter bei der Arbeit für mich als Mensch?" (siehe oben). "Hatte ich bei der Arbeit bisher die Gelegenheit, Neues zu lernen und mich weiterzuentwickeln?" (ganz neue Typen kennengelernt). Stimmen diese Bedingungen, kann offenbar selbst das Leben im Gefängnis besser als die Hölle sein.

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