Führungskräfte:Wenn der Chef zum Matrosen degradiert wird

Chef-Coaching auf hoher See: In ihrem Leben an Land sind sie Firmenchefs und Abteilungsleiter. Auf einem alten Segelschiff spielen sie dagegen Matrose oder Kapitän - und sollen dadurch lernen, sich besser als Führungskraft einzuschätzen.

Jens Schneider

Die Ostsee ist an diesem Vormittag nur ein bisschen kabbelig. Ab und zu lassen die Wellen den Bug der Brigg in ein tiefes Loch fallen, hinten am Ruder hebt die Eye of the Wind dann mächtig an. Aber dieses Geschaukel ist nicht das, was Kapitän Julius Pouw einen heftigen Seegang nennen würde. Die Teilnehmer des Führungskräfteseminars, die für drei Tage zu Gast an Bord sind, können auf dem Zweimaster über Deck laufen, ohne sich, wie noch am ersten Tag, an Leinen festhalten zu müssen.

SEGELSCHIFF - OLDTIMER BEI AMERICA'S CUP RENNEN

Am Ende gibt es Manöverkritik: Beim Seminar auf dem Segler spielen Führungskräfte Kapitän oder Matrose.

Stefan ist IT-Experte und bisher höchstens Schlauchboot gefahren, bei ruhiger See. Nun hat Seminarleiterin Christa Maurer ihn zum "Kapitän" bestimmt. Sie stellt ihm zwei andere Teilnehmer als Offiziere an die Seite. Sie sind wie Stefan zum ersten Mal auf einem so großen Segler. In ihrem Leben an Land sind sie Abteilungsleiter oder lenken, wie Großbäcker Kim aus Gütersloh, Betriebe mit bis zu 600 Mitarbeitern. Der Jüngste bereitet sich darauf vor, das Bauunternehmen seiner Eltern zu übernehmen.

Keiner von ihnen wird nach den drei Tagen an Bord ein Schiff führen können. Doch kennt jeder inzwischen die wichtigsten Handgriffe. Und so sollen sie nun zum ersten Mal das vierzig Meter lange Schiff auf Kurs bringen - und dafür das Können der Crew von Kapitän Pouw einsetzen.

Der echte Kapitän erklärt dem neuernannten, wie das Schiff mit seinen 27 Meter hohen Masten in den Wind kommt - auf dass er seine Mannschaft entsprechend auf Trab bringen möge. Ersatz-Kapitän Stefan steht neben dem Steuerrad und weist seine "Offiziere" an. Nur verstehen die nicht gleich. Minuten verstreichen. Das Schiff schaukelt richtungslos.

Julius Pouw ist alles andere als ein Captain Ahab. Er führt mit leisen, klaren Ordern. Aus dem Hintergrund macht er Stefan sanft Druck. "Die Zeit wird knapp." Aber Stefans Befehle kommen nicht nach hinten durch. Nichts passiert. Schließlich ist das Ziel nicht mehr zu erreichen, das Manöver wird abgebrochen. Die echte Crew übernimmt. Christa Maurer versammelt den Kurs zur Manöverkritik. War der Kapitän zu nett? War es gut, dass er den Vorgang abgeblasen hat?

Natürlich war das nur ein Spiel. Es herrschte keine Eile, es wurde kein Lotse gebraucht. Und doch war es mehr als Simulation wie sonst so oft in Seminaren, wo es zugeht wie in der Kinderpost. Die Briefmarken sehen aus wie echt, Stempel und Briefe auch, aber es wird nichts verschickt. Hier aber wird wirklich ein Schiff auf Kurs gebracht - oder eben nicht.

"Jeder Schritt", sagt Kapitän Pouw, "wirkt sich sofort aus. Und jeder kann das klar sehen." Gemeinsam mit Christa Maurer hat er schon erlebt, wie sich Führungskräfte in Sorge um das grandiose Schiff aufrieben. Bei anderen ging es zu wie bei dem tyrannischen Kapitän Bligh von der Bounty, der seine Mannschaft in die Meuterei trieb. "Viele geben Druck einfach weiter", sagt Maurer, "mit heftigen Schuldzuweisungen: Der war's! Der hat versagt!"

Die See ist unberechenbar

Die Personaltrainerin hatte keine Segelerfahrung, als sie die Seminare auf dem hundert Jahre alten Zweimaster übernahm. Liebhaber haben das einstige Frachtschiff vor Jahren vor dem Verfall gerettet und zur klassischen Windjammer ausgebaut. Aus einem früheren Tanzboden zimmerten sie Deckshäuser, im edlen Salon unter Deck referiert Maurer auf ehemaligen Kirchenbänken aus England über Führungstechniken. Die Gäste-Kabinen sind komfortabel, Technik und Motor für die moderne Navigation sind da, aber alle Segel werden durch Muskelkraft bedient.

Maurer hat in einem Buch die Geschichten berühmter Kapitäne nacherzählt und Lehren für die Führung von Unternehmen daraus abgeleitet. An Bord dauert es kaum einen Tag, bis man ahnt, wer sich schnell das Ruder aus der Hand nehmen lässt oder klar führt. Besonders gern steckt sie Manager, die sonst Chefs sind, in die Matrosenrolle.

"Das war die wichtigste Erfahrung", sagt Kim, der Produktionsleiter einer Großbäckerei. Einmal zieht er bis zur Erschöpfung an einem Seil, um das Großsegel zu drehen. Er hängt sein ganzes Gewicht rein, seine Hände schmerzen. Bis - endlich - gerufen wird, dass er locker lassen soll, weil nicht er, sondern die auf der anderen Seite ziehen müssen. Und das schon lange tun. Eine Führungskraft hatte "den Überblick verloren".

Weniger als einen Tag brauchen alle, um die Unberechenbarkeit des Seefahrens zu erleben. Nach dem Start in Kiel absolvieren die Seminaristen voller Euphorie unter Anleitung das erste Manöver, dann geht es in die offene See. Wind kommt auf, nicht viel, aber das Schiff rollt. Doch bald melden sich die ersten ab, wegen Übelkeit.

Pillen gegen die Seekrankheit

Keine Chance für das feine Essen, keine Chance für das Seminar. Abends im Hafen erzählt die Crew von Seeleuten, die ständig seekrank werden und die doch immer wieder hinausfahren. Am nächsten Tag werfen die Teilnehmer Pillen gegen Seekrankheit ein. Am Ende weiß niemand, ob es daran liegt, dass sie seefest bleiben.

Am letzten Tag referiert Maurer an Deck noch einmal über den "Führungskreislauf", vom Festlegen der Ziele bis hin zum Zeitmanagement. "Ich nehme von hier mit, dass ich meine Anweisungen besser kommunizieren muss", sagt einer. Ein anderer weiß besser, "wo ich mir in den Hintern treten muss".

Zum Abschluss wird ein echtes Ziel angepeilt. Das Team führt das Schiff auf der Rückreise nach Kiel. Kapitän Pouw gibt Hinweise, seine Mannschaft assistiert. "Dort dürfen wir nicht durch, das ist Sperrgebiet", zeigt er auf der Karte. "Wir sollten den Außenklüver und die Segel am Vormast setzen." Es ist verblüffend, wie leicht sich die riesigen Segel bewegen lassen, wenn alles wie in einer Hand geht. Das Tempo steigt auf fünf Knoten.

Beim Gang über Deck begleitet Pouws Stellvertreterin Nora den für diesen einen Tag ernannten Kapitän. Als er fragt, ob an alles gedacht sei, zieht sie nur die Schultern hoch. Sein Problem. Er wolle doch, sagt er unsicher, nicht das Schiff versenken. Nora grinst. "Keine Sorge, vorher greifen wir ein!"

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