Erst die Hochschulreife, dann das Studium? Nicht für Anne, Andreas und Manuel. Sie sind zwischen 14 und 17 Jahren alt und besuchen an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg Veranstaltungen in Mathematik, Physik und Informatik. Die drei Schüler sind die ersten so genannten Frühstudenten in Bayern. Genau wie ihre Kommilitonen mit Abitur nehmen sie an den regulären Lehrveranstaltungen des Grundstudiums teil. Das hat nichts mit Schnupperstudium oder Kinderuni zu tun, sondern ist harte Lernarbeit. Denn am Ende des Semesters werden Scheine gemacht.
Echte Scheine mit echten Noten, die das echte Studium später verkürzen. "Mit diesem Angebot wollen wir nicht nur Studienzeiten reduzieren und eine frühe Orientierung bieten, sondern auch Begabte fördern", sagt Initiator Wolfgang Schneider, Professor für Pädagogische Psychologie. Die Idee sei im Windschatten der Pisa-Studie gereift: "Die Ergebnisse machten deutlich, dass sich begabte Schüler im Unterricht langweilen, weil ihnen die Herausforderung fehlt. Eine Folge davon ist nicht nur die sinkende Arbeitsbereitschaft, sondern auch, dass nicht gelernt wird, wie man lernt." Und gerade selbstständiges, beharrliches Lernen ist an der Uni gefordert.
Sich völlig selbst überlassen bleiben die Frühstudierer allerdings nicht: Sie werden von einem Fachmentor begleitet, der in Kontakt mit einem Lehrer an der Schule steht. "Wir achten darauf, dass in der Schule nichts anbrennt. Wer den erheblichen zeitlichen Mehraufwand nicht koordinieren kann, dem wird nahe gelegt, sich wieder voll auf das Abitur zu konzentrieren", sagt Schneider. Generell gilt: In welchem Umfang Unterricht ausfallen darf, entscheidet die Schulleitung, die auch ihr Einverständnis zur Teilnahme am Frühstudium zurückziehen darf, wenn es etwa zu merklichem Leistungsabfall in einigen Fächern kommt.
Bestnote für den Junior
Um von vornherein das Risiko einer Überforderung zu minimieren, steht in Würzburg wie auch an anderen Unis am Anfang ein Auswahlverfahren. In einem Eignungstest werden Intelligenz und Begabungen abgeklopft. "Entscheidend ist nicht ein IQ jenseits von 130, sondern die überdurchschnittliche Begabung", sagt Schneider. Darum kümmert sich die neu gegründete Begabungsberatungsstelle der Universität. Weitere Hürde: Der Interessent muss von seiner Schule vorgeschlagen werden. Außerdem müssen die Eltern einverstanden sein.
Die meinen es aber manchmal zu gut mit ihren Lieben. Etwa im Fall der 13-Jährigen, die sich mit merkwürdig geschliffenen Briefen um ein Frühstudium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bewarb. "Im Auswahlgespräch kamen uns Zweifel. Wir hatten den Eindruck, dass die Eltern das Kind drängten. Begabung ist eine Sache, eigener Wille eine andere", sagt Claudia Felser, Koordinatorin des Frühstudiums und Professorin für anorganische Chemie.
Die 13-Jährige wurde abgewiesen. Bei den anderen zwölf Anwärtern bestanden keinerlei Zweifel. Sie sind eingeschrieben für Mathematik, Chemie und Volkswirtschaftslehre. "Das sind verschulte Fächer, die straff organisiert sind und meist am Vormittag gelehrt werden. Wer sechs Semester-Wochenstunden belegt, versäumt ungefähr zehn Schulstunden, deren Stoff selbstständig nachgeholt werden muss", sagt Felser. Dazu kommen das übliche Lernen für die Schule und die Hausarbeiten der Uni. Kein Zuckerschlecken also. Allerdings: Beim Mainzer Modell wird stark auf Betreuung gesetzt. So steht in jedem Fach ein Mentor zur Verfügung, zusätzlich ein eigener Dozent in Mathematik und ein Lehrer, der den Kontakt zur Schule hält.
Das sorgt dafür, dass es kaum zu Studienabbrüchen kommt. Erstaunlich: Die Leistungen des Nachwuchses entsprechen denen der normalen Studierenden und liegen teilweise sogar etwas darüber. Etwas blamabel für die offiziellen Studenten: Die mit der exzellenten Note von 1,0 beste VWL-Klausur wurde im letzten Semester ausgerechnet von einem Junior abgeliefert. Wer am Ball bleibt und sich später in Mainz einschreibt, kann die Strecke bis zum Vordiplom um zwei Semester verkürzen.
Schüler mit Doppelleben
Wohl auch dieser Effekt hat die Kultusministerkonferenz (KMK) im vergangenen Juni bewogen, Frühstudien zu befürworten, so dass "Schüler, die nach dem einvernehmlichen Urteil von Schule und Hochschule besondere Begabungen aufweisen, ohne förmliche Zulassung als Studierende den Erwerb von Studien- und Prüfungsleistungen zu ermöglichen ist". Nach dem Willen der KMK sollen Leistungsnachweise beim späteren regulären Studium sogar länderübergreifend anerkannt werden.
Vorreiter der Bewegung war die Universität Köln, wo Schüler schon seit vier Jahren ein Doppelleben als Student führen können. Selbst die Fachhochschule Stralsund bietet seit dem vergangenem Wintersemester die Möglichkeit, Fächer wie Betriebswirtschaftslehre, Statistik, CAD-Technik, Physik oder Fertigungsverfahren zu belegen. Dafür konnten sich 15 Frühstudierende begeistern.
Professor Frank Mücklich, Leiter des Juniorstudiums an der Universität des Saarlandes, schätzt, dass in dem kleinen Bundesland jährlich etwa 40 Hochbegabte für ein Frühstudium in Frage kommen und bundesweit etwa 3000. Das noch junge Experiment scheint sich also zu etablieren, wie einst der Vorstoß, Senioren zum Studium zuzulassen. So wird im kommenden Sommersemester ein Dutzend Gymnasiasten zusammen mit Anne, Andreas und Manuel an der Universität Würzburg zur Jagd auf Scheine antreten. Auch hier wird ein hübscher Achtungserfolg vermeldet: Die beste Mathematik-Klausur hat die 14-jährige Anne geschrieben. Wegen ihres Alters hatten die Begabungstester anfangs Bedenken angemeldet.