Süddeutsche Zeitung

Frühkindliche Bildung:Zauberformel für die Kita

Will man benachteiligte Kinder unterstützten, kommt man an der Verteilungsfrage nicht vorbei: Welche Kita kriegt vom Staat wie viel Geld? Die Stadt München will benachteiligte Kinder vor der Schule auf besondere Weise fördern.

Felix Berth

Die Fragen sind recht einfach: Wie sorgt man dafür, dass benachteiligte Kinder schon vor dem Schulstart stärker unterstützt werden? Was hilft dem vierjährigen Türken aus Berlin-Kreuzberg dabei, im Kindergarten besser Deutsch zu lernen? Womit bringt eine Erzieherin im Münchner Hasenbergl einer Fünfjährigen nahe, dass gute Bücher interessanter sind als das TV-Programm?

Die Antwort ist nicht schwierig - zumindest auf den ersten Blick: "Holt diese Kinder früh in die Kitas und unterstützt sie dort intensiv", fordern inzwischen fast alle Pädagogen. Zwar wird auch dann nicht aus jedem Migrantenkind ein erfolgreicher Akademiker, denn "der Einfluss der Eltern ist stets größer als der von Kitas", sagt Katharina Spieß, die an der Freien Universität Berlin den Nutzen frühkindlicher Bildung erforscht. Doch bei Kindern aus benachteiligten Familien sei die Rendite einer Kita-Förderung besonders groß, so Spieß. Der rechtzeitige Start ins Bildungssystem steigert die späteren Chancen, wie zahlreiche Studien zeigen: Kinder, die nur ein Jahr lang im Kindergarten waren, haben in der Schule Lernrückstände zu jenen, die zwei oder drei Jahre dort waren.

Solche Einsichten haben sich bei Politikern herumgesprochen. Die SPD plädiert seit längerem für "gute Betreuung ab eins", und in der Union werben zum Beispiel Norbert Röttgen und Annette Schavan für eine gezielte Förderung der benachteiligten Vorschul-Kinder. Viel geändert hat sich freilich noch nicht. Das liegt auch daran, dass das Thema Ländersache ist - weshalb jede Verbesserung nicht nur einmal, sondern sechzehnmal politisch erstritten werden muss. Immerhin versuchen einige Bundesländer derzeit, ihr Geld zielgenauer auszugeben. Und in der bayerischen Hauptstadt arbeitet die Verwaltung an einer "Münchner Förderformel", die die kommunale Kita-Finanzierung revolutionieren könnte.

Idee der Gleichheit dominiert

Will man benachteiligte Kinder unterstützten, kommt man an der Verteilungsfrage nicht vorbei: Welche Kita kriegt vom Staat wie viel Geld? Kann also ein Kindergarten, der schwierige Kinder betreut, dafür mehr und besser ausgebildetes Personal einstellen? Ein solches Prinzip wäre dringend nötig, sagt Hans Rudolf Leu vom Deutschen Jugendinstitut (DJI): "Der Staat muss seine Ressourcen ungleich verteilen, um die benachteiligten Kinder besser zu fördern." Was logisch klingt, setzt sich in der Praxis der Länder nicht durch: Stets dominiert bei der Finanzierung die Idee der Gleichheit - kein Kindergarten soll schlechter gestellt sein als ein anderer.

Vergleichsweise fortschrittlich ist das bayerische Modell. Der Freistaat zahlt für jedes Migrantenkind mehr Geld. Konkret: Wenn in einer Kita-Gruppe 25 Kinder aus deutschsprachigen Familien sind, schießt der Staat 67.000 Euro zu. Damit lässt sich das Gehalt einer Erzieherin und einer Kinderpflegerin finanzieren. Stammen jedoch zwei Drittel der Kinder aus Einwanderer-Familien, steigt die bayerische Förderung auf 81.000 Euro. Der Kindergarten kann eine weitere Teilzeit-Erzieherin einstellen oder eine besser qualifizierte Sozialpädagogin beschäftigen. Der Anfang einer "positiven Diskriminierung" ist gemacht.

Knappes Geld mit großem Nutzen

In München könnte dieser Reform eine kleine Revolution folgen. Christine Strobl, die zweite Münchner Bürgermeisterin, kommt aus Verhältnissen, die ein Soziologe als "bildungsfern" bezeichnen würde. Ihre Eltern hatten die Hauptschule besucht, und ihr bayerischer Dialekt klingt ein wenig rauer als das Münchnerisch von Oberbürgermeister Christian Ude, der im Schwabinger Bildungsbürgertum aufwuchs. Strobl, 47, hat ihre Schulkarriere der Förderung von außen zu verdanken: Als sie in der vierten Klasse beste Noten schrieb, bat der Rektor die Eltern in die Sprechstunde: Ob sie ihre Tochter bitte aufs Gymnasium schicken würden? Weil Christine ein Einzelkind war, konnte sich die Familie das leisten; zwei Jahrzehnte später hatte die junge Frau ihr Studium abgeschlossen.

Eine solche Karriere ist wahrscheinlich eine gute Voraussetzung, um zu begreifen, was "Bildungsgerechtigkeit" bedeutet: Es geht um Chancen für Kinder, deren Eltern nicht so genau wissen, wie sie einen Krippenplatz kriegen oder warum es besser ist, nicht erst Fünfjährige im Kindergarten anzumelden. "Wenn wir Bildungsgerechtigkeit anstreben, müssen wir an unserem System einiges verbessern", sagt Strobl. Sie hat ein ehrgeiziges Ziel: Das knappe Geld soll dorthin, wo es am dringendsten gebraucht wird und den größten Nutzen hat.

Auf der nächsten Seite: Mit welchen Stellschrauben eine bessere Finanzmechanik arbeiten würde.

Mehr als Verwahrung

Doch mit welchen Stellschrauben würde eine bessere Finanzmechanik arbeiten? Günter Krauß, Geschäftsführer des Instituts Iska, berät die Stadt München seit einigen Jahren. Sein jüngstes Gutachten wird der Stadtrat an diesem Dienstag diskutieren. Darin schlägt Krauß eine schlichte Formel vor, die das heutige System ersetzt. Mehr Geld gäbe es Kinder unter einem Jahr, für behinderte Kinder und solche mit besonderem, von Sozialbehörden festgestelltem Hilfebedarf. Mehr Geld gäbe es auch, wenn ein Kindergarten an einem Ort liegt, wo besonders viele Eltern geringe Einkommen und wenig Bildung haben. Mehr Geld gäbe es für elternfreundliche Ferienregelungen mit wenigen Schließungstagen sowie für innovative Konzepte.

Die beschriebene Kita mit 17 Migrantenkindern könnte nach der Münchner Förderformel deutlich höhere Zuschüsse erwarten: Wenn dieser Kindergarten in einem Stadtteil liegt, in dem viele arme Eltern wohnen, erhält er nach einer Beispielrechnung von Krauß für diese eine Kita-Gruppe weitere 40.000 Euro. Mit dieser enormen Summe wäre vieles möglich, was über Betreuung und Verwahrung hinausgeht: Vorlesen und basteln in kleinen Gruppen, anregende Ausflüge, intensive Betreuung einzelner Kinder wie auch die Einstellung von ausreichend qualifiziertem Personal. Wobei Krauß betont, dass dies nur eine Beispiel-Rechnung ist, weil letztlich der Stadtrat entscheiden muss: "Das Schöne an einer solchen Formel ist, dass man politisch transparent festlegen kann, was man für förderungswürdig hält und was nicht."

Die "Münchner Förderformel" wird am heutigen Dienstag noch nicht beschlossen. Ein Jahr lang wolle man mit den Betroffenen diskutieren, sagt Strobl. Denn die Bürgermeisterin ahnt, dass die Finanzrevolution nicht nur Begeisterung auslösen wird: Jede Institution fragt erst einmal, ob sie im neuen System schlechter gestellt ist als im alten. Der Zuspruch in künftig bevorzugten ärmeren Quartieren wird begrenzt bleiben - weil sich Eltern dort wenig dafür interessieren, weil ihnen die Zeit fehlt und oft auch die Ahnung, wie sie ihre Interessen durchsetzen. Die Kritik der Mittelschicht aber kann gewaltig werden: Wieso kriegt eine Kita im Hasenbergl so viel mehr Geld als der Waldkindergarten der Akademiker-Eltern im vornehmen Münchner Süden? "Auf diese Kritik bin ich vorbereitet", sagt Christine Strobl. "Wenn der Stadtrat das beschließt, muss man da durch."

Und wenn es ganz schlimm wird, muss wohl der Kämmerer helfen. Dann wird so viel Geld ins System gepumpt, dass die zürnende Mittelschicht zumindest nicht schlechter gestellt wird als zuvor. Auch das wäre sicherlich kein Nachteil: Noch immer gibt die Bundesrepublik im internationalen Vergleich extrem wenig für frühkindliche Bildung aus - in Dänemark zum Beispiel ist der Betrag pro Kind viermal so hoch.

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Quelle:
SZ vom 8.7.2008/bön
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