Frühkindliche Bildung:Lektionen für Kleinkinder

Wenn der Nachwuchs den elterlichen Ehrgeiz ausbaden muss, lernen schon Zweijährige Astronomie, Ökonomie, Literatur und üben die freie Rede. Das wachsende Angebot der Frühförderung ist umstritten.

Bernd Kramer

Fragend schaut Julia hoch zu Monika Folkerts. "Open your eyes", flüstert diese dem Mädchen zu. "Open your eyes", öffne deine Augen, wiederholt die Fünfjährige. Hinter ihrem Rücken hält sie eine grüne Plastikgurke versteckt. Ihre Altersgenossen dürfen nun raten. "Okay, what is missing?", fragt Lehrerin Folkerts in die Runde. Was fehlt? "Die rote Paprika", ruft ein Junge. "No." Das Mädchen neben Julia versucht, ihr hinter den Rücken zu schielen. Die ehemalige Chemie-Ingenieurin Folkerts unterrichtet die Kinder als private Englischlehrerin. 270 Kinder besuchen allwöchentlich die Kurse, die jüngsten sind erst drei Monate alt, die ältesten 13 Jahre.

Kleinkind, ddp

"Open your eyes" - Kleinkinder bekommen in Baby-Sprachschulen erste Englischkenntnisse vermittelt. Auch Astronomie und Ökonomie stehen auf dem ersten Stundenplan von machen Zweijährigen.

(Foto: Foto: ddp)

Folkerts' Sprachschule in Bergkamen hat mittlerweile elf Mitarbeiter, über einem Sonnenstudio hat die 36-Jährige eine komplette Etage für Unterrichtsräume angemietet und in Werne eine Zweigstelle eröffnet. Eigentlich suchte Folkerts vor drei Jahren nur selbst einen Englischkurs für ihren Sohn. Weil es keinen gab, ließ sich die Sauerländerin bei der Bildungskette Helen Doron kurzerhand zur Sprachlehrerin umschulen. Das entsprechende Seminar dauerte nur wenige Tage. Wenig später saßen interessierte Eltern mit ihren Babys in ihrem Wohnzimmer. Folkerts staunt noch heute über ihre Zufallsgründung.

Keine einheitlichen Qualitätsstandards

Bildung für Kleinkinder ist ein gutes Geschäft. Etwa alle zwei Wochen eröffnet irgendwo in Deutschland eine neue Helen-Doron-Sprachschule, sagt Richard Powell, Deutschland-Koordinator der britischen Franchise-Firma. Etwa 80 kommerzielle Schulen sind so allein unter der Marke Helen Doron entstanden. Andere Sprachschulen wie das "Shanghai Institut" bieten Chinesisch für Grundschüler, das in München ansässige "China Coaching Center" sogar Kurse für Vierjährige. Auch die japanische Kette Kumon wächst; in 180 Filialen pauken Vorschulkinder Mathe, bei laufender Stoppuhr. Wirkliche Marktzahlen gibt es allerdings ebenso wenig wie einheitliche Qualitätsstandards. Ein Missstand, findet der Entwicklungspsychologe Wassilios Fthenakis, Präsident des privaten Bildungsverbandes Didacta. Kurse könne anbieten, wer immer sich dazu berufen fühle.

Ob das Training für die Kleinen etwas taugt, ist daher nicht immer klar. Die Anbieter verweisen gerne auf die Hirnforschung, sprechen von Synapsenvernetzung und Zeitfenstern, die sich bei den Kindern schließen und bis dahin dringend genutzt werden sollten. Der Forschungsstand sei in diesen Punkten jedoch keineswegs eindeutig, betont Sozialwissenschaftler Hans Rudolf Leu vom Deutschen Jugendinstitut in München. "Kinder lernen beiläufig", sagt der Kleinkindexperte. Sie könnten zwar leicht eine zweite Sprache erwerben, jedoch nur, wenn sie Bestandteil ihres Alltags ist. Ob fest gebuchter Unterricht das Richtige ist? Leu hat seine Zweifel.

In Monika Folkerts Kurs ist das Lernziel klar umrissen: 950 Vokabeln inklusive Gurke und Paprika, so groß soll der Wortschatz der Vorschulkinder nach ein paar Jahren Sprachunterricht sein. Damit die Kursteilnehmer das Gelernte verinnerlichen, gibt es CDs mit nach Hause. Die Eltern sollen die Lieder, Reime und Geschichten immer wieder laufen lassen, morgens beim Frühstück zum Beispiel, 15 Minuten täglich. "Did you listen to your CD?", fragt Folkerts am Beginn des Unterrichts. Ein Mädchen druckst verschämt herum. "Gestern nicht, aber vorgestern." Ob sie die CD hören oder nicht - wenn die Kinder zum Kurs kommen, plappern sie munter deutsch. "Am Sprechen arbeiten wir", sagt Folkerts. "Aber wir haben ja auch nur 45 Minuten."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wo Zweijährige schon Ökonomie pauken und lernen, Reden zu halten.

Lektionen für Kleinkinder

Englischkenntnisse durch Hörspielkassette

45 Minuten und Hintergrundmusik für daheim? Henning Scheich, Professor für Neurobiologie am Leibniz-Institut in Magdeburg, schüttelt den Kopf: "So etwas kann man fast vergessen." Das Konzept orientiere sich zu sehr am Fremdsprachenunterricht in der Schule, und der sei schon nicht immer ideal. Kleine Kinder lernen eine zweite Sprache laut Scheich nur dann gut, wenn sie in der Familie gesprochen wird oder von muttersprachlichen Erziehern in der Kindertagesstätte. Doch solche bilingualen Kitas, die ein regelrechtes Eintauchen in die zweite Sprache ermöglichen, sind rar und oft sehr teuer.

Monika Folkerts ist sich sicher, dass ihre Kurse den Kindern immerhin den Einstieg ins Schulenglisch erleichtern. Viele Teilnehmer hätten später gute Noten im Fach, sagt sie. Der Erfolg hänge aber von vielen verschiedenen Faktoren ab. Fast 40 Euro im Monat plus 75 Euro für Lernmaterial lassen sich Eltern diese vage Aussicht kosten.

Astronomie und Ökonomie für Zweijährige

Andere Anbieter von Frühförderung werben deutlich aggressiver: "Einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung für die gesamte spätere Schullaufbahn" verspricht "Fastrackids", ein junger Anbieter auf dem Frühfördermarkt. Im vergangenen Jahr eröffnete die amerikanische Kette ihre erste Kleinkinderschule in Berlin-Steglitz, mit einem Fächerkanon wie in der gymnasialen Oberstufe. Astronomie, Ökonomie, Literatur stehen für die Zwei- bis Neunjährigen ebenso auf dem Programm wie "Lebensstrategien". In Experimenten simulieren die Kinder zum Beispiel einen Vulkanausbruch. Mit dem Mikro vor der Videokamera feilen sie an ihrem Auftreten und üben freie Rede. Für zwei Unterrichtsstunden pro Woche zahlen die Eltern monatlich etwa 120 Euro.

Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover, hält solche Angebote für wenig hilfreich, wenn nicht sogar für schädlich: "Es liegt auf der Hand, dass Eltern den Leistungsstress, unter dem sie stehen, an die Kinder weitergeben", sagt er und warnt davor, schon Kleinkinder auf die Arbeitswelt zu trimmen. Er plädiert für mehr Gelassenheit. Werde Kindern die Kindheit geraubt, mache sie das sicher nicht schlauer.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: