Frühkindliche Bildung:Im Schatten der Großen

Werden Zweijährige in normale Kitas geholt, bleibt von Bildungszielen nicht viel übrig: Sie sind enormem Stress ausgesetzt, ihr Bedürfnis nach Ruhe und Schutz wird missachtet.

F. Berth

Ein 15 Monate altes Mädchen wartet in einem kleinen Raum, in dem ein Schrank steht. Das Mädchen schmiegt sich an seine Mutter und schaut neugierig herum. Ein Mann trägt einen Bücherstapel herein und ächzt theatralisch. Er geht auf den Schrank zu, lässt ihn aber verschlossen. Er versucht, die Bücher in den Schrank hineinzupressen, stößt dabei gegen die geschlossenen Türen. Er probiert es nochmal, erfolglos. Der erwachsene Beobachter muss nun vielleicht lächeln, weil sich der Mann so dämlich anstellt - doch was tut ein 15 Monate altes Kind? Versteht es, was passiert? Das Kind geht auf den Schrank zu und öffnet die Türen. Offenbar hat es die Absicht des Mannes verstanden und will ihm helfen, die Bücher abzulegen.

Frühkindliche Bildung: Kita-Kinder: Die Kleinen kapieren mehr, als viele Erwachsene annehmen.

Kita-Kinder: Die Kleinen kapieren mehr, als viele Erwachsene annehmen.

(Foto: Foto: dpa)

Diesen Film des Anthropologen Michael Tomasello zeigt die Psychologin Lieselotte Ahnert gerne. "Schon ein Kleinkind hat Verständnis für die Intentionen anderer", sagt Ahnert, die an der Universität Wien lehrt. Die Kleinen kapieren mehr, als viele Erwachsene annehmen. Seit gut zehn Jahren entwickeln Wissenschaftler immer neue Tests dieser Art: Bildung, so ist inzwischen politischer und gesellschaftlicher Konsens, beginnt weit vor der Schule.

Ein Ausbau, der keiner ist

Dieser Konsens hat weitreichende Folgen: Er liefert Erzieherinnen Argumente, um für höhere Gehälter zu streiten. Er führt dazu, dass Politiker bereit sind, mehr Geld für die frühkindliche Bildung auszugeben. Der Konsens ist so etwas wie die Basis für den Krippenausbau: Bis 2013 soll jedes dritte Kind einen Platz in einer Krippe oder bei einer Tagesmutter haben, haben Bund und Länder vereinbart. Das soll "Bildung von Anfang an" ermöglichen.

Doch was geschieht beim Ausbau vor Ort? Wer sich erste Resultate des Krippenausbaus ansieht, wie vor kurzem die Bertelsmann-Stiftung, stellt fest: Es werden kaum neue Krippen gebaut, stattdessen öffnet man klassische Kindergärten für die Jüngeren. Der Krippenausbau trägt seinen Namen eigentlich zu Unrecht; es geht in vielen Fällen nur um eine Erweiterung der Kindergärten.

Verzicht auf mühsame Korrekturen

Dieses Phänomen ist überall in Westdeutschland zu beobachten. Auf den ersten Blick profitieren fast alle davon. So leiden Kitas in den meisten Regionen unter sinkenden Kinderzahlen. Normalerweise würden nun mühsame Korrekturen beginnen: Kindergärten müssten verkleinert, Personal abgebaut werden. Nun ist das nicht mehr nötig: Der Kindergarten nimmt Zweijährige auf, und schon ist das demographische Problem gelöst - zur Zufriedenheit von vielen: Erzieherinnen müssen nicht um ihre Jobs fürchten, Bürgermeister müssen keine Schließungen erklären. Und Eltern sind froh, weil sie ihr Betreuungsproblem zumindest zum Teil lösen können.

Unbeachtet bleiben jedoch die Zweijährigen, die in eine solche Kita kommen: "Das sind nicht einfach kleinere Kindergartenkinder'", warnt die Psychologin Fabienne Becker-Stoll, die das bayerische Staatsinstitut für Frühpädagogik leitet. Die Kleinen, da sind sich Ahnert und Becker-Stoll einig, brauchen verlässliche, vertraute Erzieherinnen; sie müssen sichere Beziehungen zu einigen wenigen Erwachsenen aufbauen. "Das kann man Nestwärme oder auch Geborgenheit nennen", sagt Becker-Stoll.

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Keine Ruhe, kein Schutz - aber enormer Stress

Enormer Stress

In einer regulären Kindergartengruppe mit 20 bis 25 Kindern "scheitert das fast automatisch. Die Kleinen sind enormem Stress ausgesetzt, ihr Bedürfnis nach Ruhe und Schutz wird missachtet", warnt die Psychologin. Auch Lieselotte Ahnert betont, dass Kleinkinder in normalen Kindergarten-Gruppen untergehen: "Sie brauchen kleine Gruppen und vergleichsweise viel Personal." Nicht primär deshalb, weil Windeln gewechselt werden müssen, und auch nicht, weil sonst der Lärmpegel stark steigt: "Bildung lässt sich für die Kleineren nur realisieren, wenn die Betreuung sehr individualisiert in kleinen Gruppen erfolgt." Knapp zusammengefasst: "Ohne Bindung keine Bildung", sagt Fabienne Becker-Stoll.

Der Vergleich der Bertelsmann-Stiftung zeigt, wo die Situation der Kleinkinder am problematischsten ist: in den ostdeutschen Bundesländern. Dort sorgen Kommunen zwar für viele Plätze. Doch sie stellen dafür zu wenig Personal ein. Sobald eine Erzieherin mehr als vier oder fünf Kleinkinder betreuen muss, wird es - so der internationale Konsens von Psychologen und Pädagogen - für die Kinder schwierig.

Schlechte Personalschlüssel

Genau das geschieht in Ostdeutschland. In den normalen Krippen Brandenburgs kommen auf eine Erzieherin sieben Kinder; in den "altersgeöffneten" Kindergärten des Landes muss eine Erzieherin im Schnitt mehr als zehn Kinder betreuen. Auch in Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Situation ähnlich. Solch schlechte Personalschlüssel - die es im Westen nicht gibt - haben zwei Ursachen: zum einen den Sparkurs der letzten Jahre, bei dem ostdeutsche Krippen Personal entlassen mussten; zum anderen ist noch immer die DDR-Tradition spürbar, in der Erzieherinnen zwar gut ausgebildet, die Gruppen jedoch sehr groß waren.

Wenn der Westen nun bis zum Jahr 2013 Tausende neuer Betreuungsplätze für Kleinkinder schafft, sollte er sich nicht an der Personalpolitik des Ostens orientieren, fordert Thomas Rauschenbach, Chef des Deutschen Jugendinstituts: "Der Westen muss die Qualität im Blick behalten. Sonst sind die Leidtragenden am Ende die Kinder."

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