Freiwilligendienst:Botschafter der Versöhnung

Als Freiwillige der "Aktion Sühnezeichen" engagieren sich junge Erwachsene in Europa, Russland und in den USA für Kriegsopfer und ehemalige Zwangsarbeiter.

Von Joachim Göres

1958 gründeten evangelische Christen die "Aktion Sühnezeichen". Im Gründungsaufruf, der die Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen anerkennt, heißt es unter anderem: "Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern." Die Gründer baten "die Völker, die von uns Gewalt erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun".

Seitdem waren viele Tausend junge Deutsche als Freiwillige für die Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) über einen längeren Zeitraum im Ausland, um dort mit ihrer Arbeit zur Versöhnung beizutragen. Einer von ihnen ist Leo Buddeberg. Nach dem Abitur ging er 2017 für ein Jahr nach Eupen in Belgien, um im belgischen Staatsarchiv zu arbeiten. Andere sind erst später reif für diese Art der Freiwilligenarbeit und entscheiden sich nach einer Ausbildung, nach dem Studium oder im Zuge eines Jobwechsels dafür.

"Ich hatte schon in der Schule großes Interesse an Geschichte. Im Staatsarchiv konnte ich Dokumente zugänglich machen und das Gedenken an die Vergangenheit fördern. Das war eine sehr selbständige und auch sinnvolle Arbeit", sagt Buddeberg. Er machte sich durch das Bearbeiten von Archivmaterialien mit der Geschichte der belgisch-deutschen Grenzregion vertraut, bereitete eine Ausstellung mit Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg mit vor, betreute Leser im Archiv.

Viele treibt der Wunsch an, dem Rechtsextremismus und Antisemitismus entgegenzutreten

Einen Tag in der Woche besuchte Buddeberg zudem alte Menschen in einem Seniorenheim in Eupen, einer Region im Osten Belgiens, in der Deutsch die vorherrschende Sprache ist. "Wir haben uns zum Beispiel über Feste wie Weihnachten unterhalten und darüber gesprochen, welche Unterschiede es in Belgien und Deutschland gibt", erzählt Buddeberg. Dabei ging es dann häufig auch um Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und um die Besetzung durch die Deutschen. "Männer wurden zur Wehrmacht eingezogen, Belgier wurden über Nacht zu Deutschen. Das berührt viele Menschen bis heute tief", sagt der junge Mann. Umso mehr hat er sich über positive Reaktionen gefreut, über ein Lächeln der Senioren, wenn sie ihn nach einer Woche wiedererkannten.

Lisa Hohmeier war von September 2017 an für ein Jahr in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Dort kümmerte sie sich um die ehemalige Zwangsarbeiterin Anna, die ihre Wohnung nach einem Sturz nicht mehr verlassen kann. Hohmeier ging zum Einkaufen, putzte und nahm sich vor allem Zeit zum Zuhören für Menschen, die oft kaum noch andere Gesprächspartner haben. Hohmeier hat ihre wichtigsten Erfahrungen aufgeschrieben: "Anna kann mir nicht mehr erzählen, ob sie gerne las oder mit wem sie tanzte, noch, wo in Deutschland sie Zwangsarbeit verrichtete. Ihr Leben setze ich mir aus Fetzen zusammen. Es sind Fragmente, die sie ab und an preisgibt. Noch redet sie in Russisch über Supermärkte und Salzpreise, während sie im nächsten Satz einen ihrer einzigen deutschen Sätze wiedergibt: 'Großer Hund. Polizei. Schnell, schnell.'" Immer wieder erlebte Hohmeier, dass Menschen von Kriegserlebnissen berichteten, über die sie bis dahin mit niemandem gesprochen hatten. Hohmeier unterstützte auch die Ehrenamtlichen der Geschichtswerkstatt in Minsk, die solche Erinnerungen aufschreiben und sie archivieren. Die sich dafür einsetzen, dass an die Morde erinnert wird - in Blagowtschina in der Nähe von Minsk, wo mehr als 60 000 Menschen von den Nationalsozialisten erschossen wurden, gibt es erst seit Kurzem eine Gedenkstätte.

In Polen arbeiten ASFler unter anderem bei einem Essensdienst für KZ- und Ghettoüberlebende mit, in Frankreich werden Freiwillige zum Beispiel auf landwirtschaftlichen Höfen eingesetzt, in der Ukraine gehört die Betreuung von Flüchtlingen aus dem ostukrainischen Kriegsgebiet zu den Aufgaben. Weitere ASF-Stellen gibt es in Großbritannien, den Niederlanden, Israel, Norwegen, Russland, Tschechien und den USA. "In russischsprachigen Staaten muss man sich in der Landessprache verständigen können, in den anderen Ländern reicht Englisch aus. Wir unterstützen die Freiwilligen, die vorab einen Sprachkurs besuchen", sagt Dagmar Pruin.

Die Pastorin ist ASF-Geschäftsführerin. Sie spricht von einem starken Interesse an dem Freiwilligendienst - auf 140 Plätze kommen jährlich 300 Bewerber, die meisten sind 18 bis 30 Jahre alt. "Die Freiwilligen wollen etwas Praktisches tun und die Erinnerung bewahren. Zudem ist das Engagement gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus für viele eine Motivation für ihren Dienst bei uns", sagt Pruin. Der Name ihrer Organisation stoße aber bei jungen Leuten teils auf Vorbehalte. "Jede Generation diskutiert mit uns über den Begriff Sühne, manche finden Versöhnung besser", sagt sie und fügt hinzu: "Bei Versöhnung muss eine Seite vergeben, und dazu kann man niemanden zwingen. Sühne drückt dagegen aus, dass man um Vergebung bittet."

Bewerber werden zu einem mehrtägigen Auswahlseminar eingeladen. "Man sollte offen für unsere Themen sein und Lust auf neue Erfahrungen haben", betont Pruin. Nach Möglichkeit werden Wünsche in Bezug auf bestimmte Tätigkeiten oder Länder berücksichtigt - zuletzt waren vor allem Stellen in den Niederlanden und Frankreich gefragt.

Unterkunft und Verpflegung sind frei, dazu gibt es ein Taschengeld von monatlich etwa 300 Euro - je nach den Lebenshaltungskosten kann diese Summe höher oder niedriger ausfallen. Der ein Jahr dauernde ASF-Friedensdienst startet zum 1. September, bis zum 1. November des Vorjahres sollte man sich bewerben. Für dieses Jahr gibt es aber noch einige freie Stellen. Näheres unter www.asf-ev.de.

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