Süddeutsche Zeitung

Frauen und Karriere:456 Jobs könnten Frauen schaden

Daher dürfen in Russland nur Männer arbeiten, wo es laut und dunkel ist. Doch jetzt hat eine Russin das Recht erkämpft, Kapitänin zu werden - und die Berufsverbote wanken.

Von Frank Nienhuysen

Der Wolga kann man schwer widerstehen, Swetlana Medwedjewa hat die Anziehungskraft des mächtigen russischen Stroms schon immer gespürt. Sie ist an seinen Ufern aufgewachsen, in Samara, wo sich der Fluss besonders stark windet, bevor er sich wieder streckt und über Wolgograd in Richtung Kaspisches Meer führt. Medwedjewa wollte Kapitänin werden. Auf der Wolga ein Schiff zu steuern, das war ihr Wunsch.

Die junge Frau studierte, schloss eine Ausbildung zur Schiffsführerin ab. Bei einem Flussfahrt-Unternehmen fand sie Arbeit. Als sie aber Kapitänin werden wollte, erhielt sie eine Absage. Nicht sofort, die Firma war zunächst aufgeschlossen, machte Medwedjewa Hoffnung. Dann aber schauten die Chefs etwas genauer in die Gesetze und entschieden sich gegen sie. Denn Medwedjewa ist eine Frau.

Fünf Jahre lang hat sich die Russin juristisch gegen die Absage gewehrt. Sie hielt sie für diskriminierend, klagte vor dem Bezirksgericht in Samara und unterlag, zog vor das Regionalgericht und verlor. Sie schaltete die Vereinten Nationen ein, die ihr recht gaben, was ihr allerdings auch erst mal nichts nützte. Wieder schmetterte das Bezirksgericht ihre Eingabe ab.

Im Juli dann ein großer Erfolg: Das Oberste Gericht Russlands ließ den Fall überprüfen. Jetzt ist ihr langer Kampf beendet. Vor wenigen Tagen urteilte das Bezirksgericht in Samara, dass es diskriminierend war, Swetlana Medwedjewa die Arbeitsstelle als Kapitänin zu verwehren, nur weil sie eine Frau ist. Für Russland könnte die Gerichtsentscheidung wegweisend sein.

"Ich bin so glücklich über diesen Sieg, fünf Jahre habe ich darauf hingearbeitet", erklärt die 31-Jährige der Süddeutschen Zeitung in einer E-Mail. "Für andere Frauen, die einen der verbotenen Berufe ergreifen wollen, wird es jetzt schneller gehen, eine Absage ihres Arbeitgebers anzufechten." Das hofft sie zumindest.

Noch immer existiert in Russland eine Liste mit exakt 456 Berufen, die Frauen bis auf Ausnahmefälle grundsätzlich verschlossen sind. Darunter: Bulldozer-Fahrer, Feuerwehrmann, Minenarbeiter, Berufstaucher, Lastwagenfahrer, U-Bahn-Fahrer sowie alle möglichen Arbeiten unter Tage, in der Metallverarbeitung und sonstige Tätigkeiten, von denen vermutet wird, dass sie der Frau gesundheitlich schaden könnten. Swetlana Medwedjewa etwa hatte man gesagt, dass es auf dem Schiff in der Nähe des Maschinenraums einfach zu laut für sie sei. "Dann nehme ich halt Ohrenschützer", sagte sie. Trotzdem verboten, hallte es zurück.

Seltsam eigentlich: Das revolutionäre Russland und später die Sowjetunion waren Pioniere bei Rechten und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen. Plakate warben in der frühen Sowjetzeit mit entschlossen wirkenden Frauen für den Aufbau des Sozialismus, auf einem Bild in der zupackenden Hand die rote Fahne, im Hintergrund Fabrikgebäude und rauchende Schlote. Schwere Arbeit? Kein Wort darüber.

Als erstes großes Land in Europa hatte Russland nach der Februarrevolution 1917 das Frauenwahlrecht eingeführt, Alexandra Kollontai war 1923 die erste Frau der Welt, die als Diplomatin akkreditiert wurde, Valentina Tereschkowa die erste im Weltall. "Es wird Zeit, dass die Behörden von den bemerkenswerten Frauen in Russlands Geschichte inspiriert werden", sagte Denis Kriwoschejew, Vizedirektor bei Amnesty International, über den Fall Medwedjewa. Wobei ähnliche Verbotslisten offenbar auch noch in Weißrussland, der Ukraine und anderen früheren Sowjetrepubliken existieren. Allen Unterschriften unter der UN-Konvention zum Trotz.

Als schädlich, ja gefährlich hatte 1974 die Sowjetführung die 456 Berufe empfunden und auf eine Liste gesetzt, damals wohl auch mit Blick auf die Fruchtbarkeit. "Diese Berufsverbote wurzeln in Stereotypen, die Frauen in erster Linie als Mütter sehen, während Männer eine Wahl haben und Karriere machen", sagte die Russin Stefania Kulajewa von der Antidiskriminierungsstelle der Menschenrechtsorganisation Memorial der Moscow Times. "In meinem Job gibt es zwar ein gewisses Risiko für Hörschäden", sagt die Kapitänin und Ingenieurin Medwedjewa, "aber was das mit meiner Fruchtbarkeit zu tun hat, ist mir nicht ganz klar."

Nachdem Russlands Regierung die Liste im Jahr 2000 bestätigt hatte, blieben die Behörden in der Regel unnachgiebig. Vor einigen Jahren versuchte die Sankt Petersburgerin Anna Klewez ihr Glück, sie wollte Metro-Fahrerin werden. Kann ja so schwer nicht sein, dachte sie und klagte. Sie verlor. Immer wieder kleben an den Wänden der Moskauer Metrowaggons Anzeigen der Verkehrsbetriebe, die um "echte Männer" werben. Jetzt aber, spätestens mit dem Urteil im Fall Medwedjewa, denkt die Regierung offensichtlich um.

Der technische Fortschritt spielt mit den Frauen

Auf SZ-Anfrage erklärt das russische Arbeitsministerium, dass die Verbotsliste derzeit überarbeitet werde, in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium. Wie lange dies dauere, könne man nicht sagen. Vorrangig sei die "Sorge um die Gesundheit der Frauen". Aber auch im Ministerium wird laut russischen Medien zunehmend argumentiert, dass sich Technik und Sicherheit mit den Jahren längst verbessert hätten und die Verbotsliste womöglich nicht mehr zeitgemäß sei.

Und Swetlana Medwedjewa? Sie wird trotz ihres Sieges nicht dort arbeiten, wo sie vor fünf Jahren hinwollte. Seit März hat sie eine andere Stelle als Kapitänin und Mechanikerin. "Mein neuer Arbeitgeber hat keinen Grund gesehen, mich abzulehnen", sagt sie. "Ihm haben meine Papiere gepasst - und auch mein Geschlecht."

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SZ vom 28.09.2017/lho
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