Süddeutsche Zeitung

Europäisches Kruzifix-Urteil:Im Geiste der Aufklärung

Ausdruck wohlverstandener Toleranz und zutiefst europäischer Gesinnung: Das Kruzifix-Urteil hat nichts mit Ignoranz gegenüber der christlichen Tradition zu tun.

Tanjev Schultz

Wenn in öffentlichen Debatten religiöse Gefühle im Spiel sind, ist der Hang zur Übertreibung oft sehr ausgeprägt. Kurienkardinal Walter Kasper hat das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als intolerant und "radikal antieuropäisch" kritisiert. Das ist nicht nur radikal übertrieben. Es ist auch radikal falsch.

Das Urteil ist vielmehr Ausdruck wohlverstandener Toleranz und einer zutiefst europäischen Gesinnung. Die Richter gaben einer Italienerin Recht, die gegen Kruzifixe in staatlichen Schulen geklagt hatte. Die weltanschauliche Neutralität des Staates ist ein Erbe der europäischen Aufklärung, das in modernen, multireligiösen Gesellschaften unverzichtbar ist. Das Urteil liegt auf der gleichen Linie wie der berühmte Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Auch damals tat die katholische Kirche so, als stünde der Untergang des Abendlandes unmittelbar bevor.

Das christliche Abendland gibt es immer noch. Und in vielen, wenn nicht den meisten bayerischen Volksschulen hängt nach wie vor ein Kreuz. Wie die deutschen waren auch die europäischen Richter nicht der Ansicht, christliche Symbole hätten in den Schulen absolut nichts zu suchen. Die Gerichte störten sich nur daran, dass sie den Schulen verbindlich vorgeschrieben und sogar auf Protest hin nicht abgehängt wurden.

Freiwillige Schulgebete

Eine staatliche Einrichtung, argumentieren die Richter, darf nicht den Stempel einer bestimmten Religion tragen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Schule ignorant und gleichgültig gegenüber der christlichen Tradition verhalten müsste. In einer offenen pädagogischen Kultur können Angebote für freiwillige Schulgebete und religiöse Feiern sehr wertvoll sein. Die Schüler müssen ihre religiöse Identität auch nicht verbergen. Deshalb hat ein Berliner Gericht vor kurzem zu Recht entschieden, dass ein Muslim in der Pause gen Mekka beten darf, wenn das den Unterricht nicht beeinträchtigt. Und ein christlicher Schüler darf selbstverständlich um den Hals eine Kette mit dem Kreuz tragen.

Vielleicht bleiben Atheisten beim Anblick des Kreuzes ganz gelassen

Die meisten Eltern und Kinder haben in Bayern bisher darauf verzichtet, Einspruch gegen Kreuze und Kruzifixe zu erheben. Vielleicht haben sie sich nicht getraut, weil sie befürchten müssen, angefeindet zu werden. Dann widerspräche die bayerische Praxis dem Geist der höchstrichterlichen Entscheidungen. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass viele Atheisten und Muslime beim Anblick eines Kreuzes ganz gelassen bleiben. Viel wichtiger als ein Klassenzimmer ohne Kreuz sind ihnen Respekt und Fairness im täglichen Umgang.

Am (fehlenden) Kruzifix allein lässt sich nicht ablesen, ob die Schüler und Lehrer Toleranz üben und in friedlicher Vielfalt leben. Christen könnten wissen, dass die gute Tat mehr zählt als ein Symbol. Und gute Atheisten zeichnet aus, dass sie auf Distanz gehen zu allen intoleranten Typen: dem religiösen Fanatiker, aber auch dem laizistischen Eiferer.

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SZ vom 05.11.2009/holz
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