Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Hungern für ein Praktikum

Fast vollwertige Arbeit, aber kein Cent Lohn: Nicht jeder kann sich diese Art der Berufserfahrung leisten. Weltweit streiken deshalb Hospitanten - auch in Brüssel.

Von Markus Mayr, Brüssel

Echten Hunger kannte Pau Petit lange Zeit nicht. Bis er ein Praktikum bei der Europäischen Union machte, sieben Kilo hat er da in sechs Monaten verloren. "Weil ich mir schlicht das Essen nicht leisten konnte", erzählt der 27 Jahre alte Spanier, das Praktikum war unbezahlt.

Petit studiert die Europäische Union, seine Fachrichtung heißt so, gerade schreibt er seine Masterarbeit - das Praktikum bei der EU-Vertretung bei den Vereinten Nationen in Genf schien wie für ihn gemacht. Doch er war, ohne auch nur einen Cent Entschädigung für seine Arbeit, nicht geschaffen für ein Leben in der Schweiz. Mit anderen Praktikanten habe er versucht, auf öffentlichen Empfängen die Buffets zu plündern. Gern gesehene Gäste waren sie nicht.

Petits Erfahrung wirkt in ihrer Härte wie ein Einzelfall. Doch er ist bei Weitem nicht der einzige unbezahlte Praktikant in einer EU-Behörde. Allein der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) beschäftigte im vergangenen Jahr 800 Praktikanten in den 139 Delegationen, die er in der Schweiz und anderen Drittstaaten unterhält. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Bürgerbeauftragte der EU, Emily O'Reilly, am Freitag veröffentlichte - gerade rechtzeitig zu einem Streikaufruf, mit dem Praktikanten auf der ganzen Welt auf ihre Situation aufmerksam machen wollten.

Am Montag gingen sie in Genf, New York, Toronto, Washington und Wien für eine faire Entlohnung auf die Straße - und natürlich auch in Brüssel: Vor der Zentrale des Auswärtigen Dienstes in der Rue de Loi fanden sich trotz des nasskalten Februarwetters viele Praktikanten ein und hielten ihre Regenschirme und Transparente in die Höhe.

Europas Auswärtiger Dienst steht bei dem Streik besonders im Fokus - zu Recht, meint O'Reilly. Sie untersuchte in den vergangenen drei Jahren, wie das Amt Praktikanten beschäftigt. Ihr Fazit: Wenn es fair zugehen soll, muss Geld fließen. "Der diplomatische Dienst sollte sicherstellen, dass jeder eine gerechte Chance auf eines dieser geschätzten Praktika hat", sagt sie.

Und zwar unabhängig davon, ob er oder sie es sich leisten könne, Anreise, Unterkunft, Verkehrsmittel, Krankenversicherung und Essen in einer fremden Stadt zu bezahlen, all das verschlingt schnell 1000 Euro im Monat. Während O'Reilly die Praxis des EAD scharf kritisiert, gilt das nicht für andere Ressorts der EU-Kommission: Dort würden Praktikanten in der Regel bezahlt.

Petits Hungerwochen liegen nun schon fast ein Jahr zurück, er ist wieder in seiner Heimatstadt Barcelona. Am Telefon entweicht ihm dennoch ein Freudenschrei, als er hört, wie die Bürgerbeauftragte auf die Missstände reagiert. Er habe nun Hoffnung, dass sich etwas verändert, "dass die EU-Institutionen für unsere Generation und die europäischen Werte eintreten".

Der EAD hat bereits während der Untersuchung angefangen, die Vergabe der Plätze transparenter zu gestalten und die zu erwartenden Bedingungen deutlicher zu umreißen. Nun will der Dienst den "finanziellen Aspekt" neu bewerten und in künftige Budgetplanungen mit einzubeziehen.

In Brüssel teilt Bryn Watkins Petits Freude, die beiden kennen sich. Watkins ist so etwas wie der Papa aller EU-Praktikanten, der 28-Jährige führte den Streik am Montag vor das Kommissionsgebäude. Wohlwissend, dass es für seine Klientel eigentlich gar kein Streikrecht gibt. Doch er will betonen, dass Praktikanten meist wirklichen Mehrwert für ihre Arbeitgeber schaffen, vor allem die mit Abschluss und Erfahrung. Deshalb sei es auch ein richtiger Arbeitskampf, den sie austragen - und die Aussichten sei gut. Mit Blick auf O'Reillys Bericht sagt er: "Die moralische Auseinandersetzung haben wir bereits gewonnen."

Anders als O'Reilly lässt Watkins aber die anderen EU-Behörden nicht so leicht vom Haken. Er kennt die Zahlen: Die Kommission beschäftigte im vergangenen Sommer 200 unbezahlte Praktikanten - zusätzlich zu den 1300 regulären Stellen, die mit mehr als 1100 Euro vergütet sind. Die Sommerpraktika kämen meist auf Drängen von Interessierten zustande, die keinen regulären Platz bekommen haben. Für Watkins steht aber fest: "Die EU muss alle ihre Praktikanten bezahlen. So einfach ist das."

Dieser Meinung sind auch Abgeordnete im Europäischen Parlament: "Die Ausbeutung von Praktikantinnen und Praktikanten als billige Arbeitskräfte muss ein Ende haben", fordert etwa die Grüne Terry Reintke. In Reden würde stets betont, wie wichtig bessere Jobchancen für Jugendliche seien, doch "scheint das sehr schnell vergessen, wenn es um Praktika im eigenen Haus geht. Das ist beschämend." Sie kritisiert damit auch ihre direkten Kollegen: Laut einer Umfrage ist jeder zehnte Praktikant bei einem Abgeordneten unbezahlt.

Ob Petit, der Ex-Praktikant, nun bald aus der unbezahlten in die bezahlte Arbeitswelt wechseln kann, ist fraglich. Zu einem Job hat seine Erfahrung im Auswärtigen Dienst bisher nicht geführt, "wertvoll" sei sie dennoch gewesen. Trotz ungewolltem Gewichtsverlust.

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SZ vom 21.02.2017/lho/cat
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