Etikette:Muss ich mir Unfreundlichkeit am Telefon gefallen lassen?

Die Sprechstundenhilfe beim Arzt ist sehr unfreundlich. Soll ich sie oder direkt ihren Chef darauf ansprechen?

SZ-Leserin Anne F. fragt:

Ich bin beruflich sehr eingespannt und habe mich kürzlich maßlos geärgert, als ich einen Termin beim Arzt vereinbaren wollte. Die Sprechstundenhilfe meldet sich, schnauzt "Moment bitte!" und legt den Hörer ab. Ich hänge minutenlang in der Leitung, bevor ich plötzlich ein herrisches "Ja!!?" vernehme. Ich nenne mein Anliegen, und während sie geräuschvoll im Terminplaner blättert, spricht sie ausgiebig mit Patienten, die offenbar an der Theke stehen, unter anderem über medizinische Details, die sicher nicht für meine Ohren bestimmt sind. Soll ich die Frau selbst auf ihr unmögliches Verhalten ansprechen oder gleich ihren Vorgesetzten?

Jan Schaumann antwortet:

Liebe Frau F., auf die Gefahr hin, dass Sie sich erneut ärgern: Die Einschätzung des Verhaltens der Dame am Telefon ist nichts weiter als Ihre persönliche Wahrnehmung. Eine situative obendrein. Würden Sie die Sprechstundenhilfe zur beschriebenen Situation befragen, bekämen Sie voraussichtlich eine abweichende Schilderung.

Der SZ-Jobcoach

Jan Schaumann war in verschiedenen Führungspositionen in international operierenden Unternehmen in Europa, Asien und den USA tätig.

Nur um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Es geht mir nicht darum, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Geschweige denn, jemanden für etwas zu verurteilen, das ich nicht selber erlebt habe. Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Ihre Seite besteht darin, dass Sie Ihren Arzt konsultieren wollen. Da kein regulärer Weg an der Herrin über Telefon und Terminkalender vorbeigeht, ist die Sprechstundenhilfe Ihr erster Kontakt. Möglicherweise haben Sie sich extra ein paar Minuten Zeit für dieses Gespräch genommen und konnten sich auf den Anruf sowohl vorbereiten als auch konzentrieren. Ein höchst persönliches Anliegen wie den Grund für einen Arztbesuch an eine dritte Person (die Sprechstundenhilfe) zu kommunizieren, bedeutet für die meisten Menschen schon ein gewisses Maß an Vertrauen. Dieses Anliegen dann nicht unmittelbar und in geschützter Atmosphäre mitteilen zu können, frustriert. Und wenn dann der Eindruck der Indiskretion hinzukommt, ist der Vertrauensvorschuss erst einmal futsch. Das verstehe ich.

Wenn wir uns die andere Seite der Medaille anschauen, sehen wir vielleicht das hoffnungslos überfüllte Wartezimmer einer Arztpraxis, diverse kommende, gehende und fragende Patienten, klingelnde Telefone und eine Mitarbeiterin mit sechs Armen, drei Köpfen und zwölf Ohren. Ach nein, diese Angestellte hat ja nur einen Kopf, zwei Ohren und ebenso viele Arme. Ich vergaß. Und sie ersetzt eventuell seit einigen Tagen ihre erkrankte Kollegin, mit der sie sich für gewöhnlich die Rezeptionsarbeit teilt. Entsprechend kritisch ist es mittlerweile um ihr Nervenkostüm bestellt, da es sich um ein menschliches Wesen handelt. Wie Sie und ich.

Ich (ganz persönlich) bemühe mich in den allermeisten Fällen, meinen Mitmenschen zunächst eine positive Absicht zu unterstellen. Erst wenn ich restlos vom Gegenteil überzeugt bin, ist Schluss mit lustig. Allerdings nicht vorher.

Sprechen Sie die Dame an

Kommen wir zum professionellen Teil. Sich am Telefon seines Unternehmens mit "Moment bitte!" zu melden, ist sicher alles andere als professionell. Dafür spart es Zeit, auch meine. Besser wäre in jedem Fall, sich mit dem Namen des Unternehmens und dem eigenen zu melden, um dann sogleich so etwas wie "Einen kleinen Moment bitte!" hinzuzufügen. Eine tolle Erfindung und genau der richtige Augenblick, sie einzusetzen, ist die Wartetaste am Telefon. Der Anrufer kommt während der nun folgenden Wartezeit in den Genuss ausgewählter musikalischer Darbietungen und muss nicht Ohrenzeuge parallel laufender Gespräche am anderen Ende der Leitung werden.

Dauert die Wartezeit länger, wäre eine zwischenzeitliche Statusmeldung ("Bitte noch einen kleinen Moment Geduld, ich bin gleich für Sie da!") angebracht, um beim Anrufer nicht den Eindruck zu erwecken, sein Anliegen wäre im Ozean des Vergessens versunken. Spätestens wenn Sie an der Reihe sind, ist es Zeit für eine persönliche Begrüßung und die Bitte um Entschuldigung für die Wartezeit oder ein kurzer Dank dafür, dass Sie gewartet haben.

Wie wäre es mit einem digitalen Kalender?

Ein wenig erstaunt bin ich über die Tatsache, dass Ihre Arztpraxis noch einen handschriftlichen Terminkalender pflegt. Dessen Blätterlautstärke lässt sich wohl nur mit zunehmender Entfernung vom Telefon (und damit leider auch von der blätternden Person) reduzieren. Hier könnte ein digitaler Kalender vielleicht die eine oder andere Arbeitsminute einsparen, was wiederum Ihnen als Patientin zugutekäme. Aber das nur nebenbei.

Alles in allem gehe ich davon aus, dass es weder zum Aufgabenbereich noch zur persönlichen Leidenschaft der Sprechstundenhilfe gehört, Patienten zu vergraulen. Ganz im Gegenteil. Wir sollten andere Menschen stets so behandeln, wie wir selber behandelt werden möchten. Dies wiederum meine ich für beide Seiten der von Ihnen geschilderten Situation. Wenn Sie dennoch mit dem Verhalten der Dame nicht einverstanden sind, sprechen Sie sie am besten direkt an. Nicht ihren Vorgesetzten. Schildern Sie ihre Wahrnehmung, welche Wirkung diese auf Sie hatte und Ihren Wunsch, wie mit Ihnen umgegangen werden sollte. Sie merken schon, das sind die klassischen Ich-Botschaften. Und die sind meist hilfreicher und vor allem wertschätzender als mit dem verbalen Finger auf den anderen zu zeigen. Denn dann zeigen stets drei Finger auf uns selber.

Haben Sie auch eine Frage zu Berufswahl, Bewerbung, Arbeitsrecht, Etikette oder Führungsstil? Schreiben Sie ein paar Zeilen an coaching@sueddeutsche.de. Unsere sechs Experten wählen einzelne Fragen aus und beantworten sie im Wechsel. Ihr Brief wird komplett anonymisiert.

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