Erwerbsminderungsrente:Zu krank um zu arbeiten

Depressionen, Bandscheibenleiden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Wer nicht mehr voll arbeitsfähig ist, kann unter Umständen eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragen. Im Schnitt gibt es 712 Euro monatlich.

Rolf Winkel

Die reguläre Altersgrenze bei der Rente soll steigen. Gerade gesundheitlich angeschlagene Ältere werden aber kaum weiterbeschäftigt. Die Renten wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung werden daher noch wichtiger. Ein Überblick über die wichtigsten Regeln.

Erwerbsminderungsrente: Zu krank um zu arbeiten

Die psychischen Erkrankungen in Deutschland nehmen zu. Nach dem aktuellen Gesundheitsbericht der Bundesregierung spielen sie bei Frühverrentungen eine wachsende Rolle.

(Foto: Foto: photodisc)

Wann kann man eine Erwerbsminderungsrente bekommen?

Zum Beispiel bei schweren Depressionen. Unter den 170.000 im Jahr 2004 bewilligten Erwerbsminderungsrenten wurden fast 30 Prozent wegen psychischer Erkrankungen zugestanden. Danach folgten Skeletterkrankungen (vor allem Bandscheibenleiden), Herz-Kreislauf-Leiden und bösartige Neubildungen (Krebs) als häufigste Krankheiten für die Rentenbewilligung.

Ist die Erwerbsminderungsrente an bestimmte Krankheiten gebunden?

Nein, es kommt nicht allein darauf an, wie schwer eine Krankheit ist. Die Gutachter der Rentenversicherung müssen vielmehr über die (Rest-)Arbeitsfähigkeit urteilen. Die höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung gibt es, wenn nur noch Jobs mit täglich weniger als drei Stunden in Frage kommen. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung kann erhalten, wer pro Tag weniger als sechs Stunden arbeiten kann.

Und wenn es keine Teilzeitstellen mit wenigen Stunden gibt?

Wer pro Tag fünf Stunden erwerbstätig sein kann und keinen entsprechenden Teilzeitjob findet, kann auch die Rente wegen voller Erwerbsminderung bekommen. Dies wird individuell geprüft. Wer - wie Sekretärinnen - eher gute Chancen hat, einen Teilzeitjob zu finden, wird kaum eine arbeitsmarktbedingte Rente wegen voller Erwerbsminderung bekommen. Diese gibt es weit eher für Schlosser und Bauarbeiter, für die kaum Teilzeitstellen vorhanden sind.

Kann Arbeitnehmern eine Arbeit in einem anderen Beruf zugemutet werden?

Das kommt auf das Alter an. Für diejenigen, die vor dem 2. Januar 1961 geboren wurden, gilt noch ein Berufsschutz. Sie erhalten die Rente also dann, wenn sie das Stundenlimit in ihrem ausgeübten Beruf nicht mehr erreichen können. Für alle Jüngeren ist dagegen eine Arbeitsaufnahme in jedem Beruf zumutbar.

Welche Vorversicherungszeiten müssen Antragsteller erfüllen?

Die Rente gibt es nur, wenn die Betroffenen mindestens fünf Jahre rentenversichert waren und in den letzten fünf Jahren mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge gezahlt haben. Sonderregelungen gelten für Berufsanfänger. Allerdings: "Bei uns gilt der Grundsatz Reha vor Rente", sagt Stefan Braatz von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV). "Diese Rente wird unter Umständen Jahrzehnte vor dem Erreichen der Altersgrenze gezahlt. Bevor wir das tun, muss versucht werden, die Arbeitsfähigkeit durch eine medizinische Rehabilitation wiederherzustellen oder eine Umschulung in einen anderen Beruf zu finanzieren - wenn das zu einer Wiedereingliederung führen kann."

Zu krank um zu arbeiten

Wie sind die Chancen, dass ein Rentenantrag bewilligt wird?

2005 wurden zwar 363.846 Anträge auf Erwerbsminderungsrenten gestellt, aber nur 173.630 (47,7 Prozent) bewilligt. Wichtigster Ablehnungsgrund: Die Gutachter befanden, dass die Betroffenen doch noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten konnten. Aussagekräftige Gutachten von Fachärzten erhöhen die Chance, dass der Antrag bewilligt wird. "Oft sind aber die Unterlagen zu mager", so Braatz. Der Tipp des Rentenfachmanns: "Sinnvoll ist es auch, auf andere Gutachten hinzuweisen, die etwa bei der Arbeitsagentur oder der Krankenkasse vorliegen. Hierauf kann die Rentenversicherung zurückgreifen."

Kann man Widerspruch gegen einen ablehnenden Bescheid einlegen?

Ja, das lohnt sich häufig. Dies gilt gerade dann, wenn die Rente aus medizinischer Sicht abgelehnt wurde. In mehr als einem Drittel dieser Fälle wird dem Widerspruch stattgegeben, "meist weil neue Unterlagen eingereicht oder neue medizinische Aspekte vorgebracht wurden", sagt DRV-Fachmann Braatz. Gegen einen abgelehnten Widerspruch kann Klage eingelegt werden. Die Erfolgsquote liegt hier ebenfalls bei etwa 30 Prozent.

Wie hoch sind die durchschnittlichen Renten?

Die Erwerbsminderungsrenten betrugen Ende 2005 im Schnitt 712 Euro pro Monat. Sie werden bis zum 65. Lebensjahr gezahlt. Danach wird die Rente in eine (oft höhere, aber nie niedrigere) Regelaltersrente umgewandelt - und zwar ohne Antrag.

Wie wird die Rentenhöhe berechnet?

Wer etwa mit 30 - zum Beispiel nach einem schweren Autounfall - schon nicht mehr arbeiten kann, hat bis dahin durch seine eingezahlten Beiträge nur geringe Rentenansprüche erworben. Damit die Betroffenen nicht zu Sozialfällen werden, wird bei ihrer Erwerbsminderungsrente so getan, als ob sie bis zum 60. Lebensjahr gearbeitet und Versicherungsbeiträge an die Rentenkasse abgeführt hätten.

Im Beispielfall werden etwa die 30 fehlenden Rentenbeitragsjahre zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr ähnlich bewertet wie die tatsächlichen Beitragsjahre bis zum 30. Lebensjahr. Hat der Versicherte vor dem Unfall gut verdient und hohe Beiträge an die Rentenkassen abgeführt, werden auch die fehlenden Versicherungsjahre bis zum 60. Lebensjahr entsprechend hoch bewertet - und umgekehrt.

Gibt es auch bei der Erwerbsminderungsrente Abschläge?

Ja, dies ist aber umstritten. Der Hintergrund: Wer 60 Jahre oder älter ist und erhebliche gesundheitliche Probleme hat, kann unter Umständen zwischen der Erwerbsminderungsrente und der Altersrente für Schwerbehinderte wählen. Wer Letztere mit 60 beantragt, muss in der Regel bis zu 10,8 Prozent Rentenabschläge hinnehmen. Um zu verhindern, dass schwerbehinderte Versicherte - um Abschläge zu vermeiden - die Rente für Erwerbsgeminderte beantragen, gibt es seit Anfang 2001 auch bei dieser Rentenart gleich hohe Abschläge.

Der Haken: Mit diesen Rentenkürzungen werden nicht nur diejenigen belegt, die ab 60 eine Erwerbsminderungsrente beantragen, sondern auch alle Jüngeren - also auch ein 30-jähriges Unfallopfer. Dabei kommt für Jüngere ein "Ausweichen" in die Schwerbehindertenrente gar nicht in Frage. Diese gibt es erst frühestens mit 60.

Diese Vorgehensweise hat das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil vom 16. Mai 2006 als "gesetz- und grundrechtswidrig" (Az.: B 4 RA 22/05 R) erklärt. Weder aus dem Gesetz noch aus den Gesetzesmaterialien gehe hervor, dass auch die Erwerbsminderungsrenten jüngerer Antragsteller gekürzt werden sollten, befanden die obersten Sozialrichter.

Was bedeutet das Urteil für Rentenbezieher?

Die Rentenversicherung prüft das Kasseler Urteil derzeit und will sich noch nicht festlegen. Möglicherweise erhalten die Betroffenen jedoch eine höhere Rente - gegebenenfalls rückwirkend ab Anfang 2002. Dafür müssen Rentenbezieher jedoch einen Überprüfungsantrag nach § 44 des zehnten Sozialgesetzbuchs (SGB) stellen. Im Einzelfall kann es dabei um Nachzahlungen von bis zu 5000 Euro oder mehr gehen. Wer gerade erst seinen Bescheid zur Erwerbsminderungsrente von der Versicherung erhalten hat, sollte Widerspruch gegen berechnete Abschläge einlegen.

Die Erwerbsminderungsrente wird in der Regel nur befristet bewilligt - und zwar meist für drei Jahre. Danach ist ein neuer Antrag erforderlich. Falls die Weiterzahlung abgelehnt wird, können sich die Betroffenen wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und Arbeitslosengeld I beantragen. Die Zeit des Bezugs von Rente wegen voller Erwerbsminderung gilt nämlich als versicherungspflichtig in der Arbeitslosenversicherung - und zwar für alle, die unmittelbar vor dem Bezug der Rente als Arbeitnehmer versicherungspflichtig waren oder Arbeitslosengeld I respektive - bis Ende 2004 - Arbeitslosenhilfe erhalten hatten.

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