Vor ein paar Wochen wurde der Volkswagen-Chef Matthias Müller gefragt, warum er angesichts des desaströsen Zustands seines Unternehmens und der immer neuen Schreckensnachrichten eigentlich noch nie beschlossen habe, morgens einfach im Bett zu bleiben. Wieso entscheidet sich jemand jeden Tag aufs Neue, sich diesen Job anzutun? "Sie wissen ja gar nicht, ob ich nicht schon mal liegen geblieben bin", feixte Müller.
20 000 Entscheidungen treffen Menschen täglich, sagen Wissenschaftler. Das beginnt beim Klingeln des Weckers - aufstehen oder noch mal umdrehen? -, viele betreffen Alltäglichkeiten. Manchmal sind es große, vielleicht lebensverändernde Entscheidungen. (Wenn man zusagt, Vorstandschef bei Volkswagen zu werden, zum Beispiel.) Für Führungspersonal gehört Entscheidungsstärke zum Anforderungsprofil, theoretisch zumindest. Die Entscheidungen von Vorgesetzten beeinflussen die Zukunft ihres Unternehmens und damit auch das Leben ihrer Mitarbeiter. Mitunter müssen sie zwischen den Optionen wählen, die ihre Leute ihnen vorlegen. Und die Mitarbeiter? Die entscheiden auch - und sei es nur, dem Chef nicht zu sagen, dass er falsch gewählt hat.
An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser, hat Charlie Chaplin mal gesagt.
Wenn man die Entwicklung der Welt beleuchtet, zeigt sich, dass die Zahl der Optionen stetig zugenommen hat - egal, ob man bloß ein paar Jahre, ein paar Jahrzehnte oder Jahrtausende zurückblickt. Wir leben heute in einem "Supermarkt der Möglichkeiten", so nennen das die Wissenschaftler des Hamburger Museums für Arbeit, die gerade eine Ausstellung über das Entscheiden zusammengestellt haben. Mit der Zahl der Möglichkeiten steigt allerdings auch die Chance danebenzuliegen.
Bedeutet Entscheiden heute also vor allem, den Zweifel ertragen zu können?
Der Psychologe Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er hat schon amerikanische Bundesrichter und deutsche Ärzte trainiert, in unsicheren Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er glaubt, dass man bereits in der Schule den Umgang mit Unsicherheit stärker thematisieren sollte. Man müsse Kindern spielerisch den Umgang mit Risiken näherbringen, sagt Gigerenzer. Bislang sei das Bildungssystem eher an der "Mathematik der Sicherheit" orientiert - das sei aber unzureichend, weil die Welt heute nur Illusionen von Gewissheit anbiete, aber kaum absolute Sicherheit.
Ein guter Entscheider, sagt Gigerenzer, setze Gefühl und Verstand gleichermaßen ein. Im besten Fall sei eine Führungskraft also mit dem Gegenstand ihrer Entscheidung genau vertraut, verfüge über fundierte Informationen - und verlasse sich dann auf ihre Intuition. "Intuition ist genauso ein Werkzeug wie Nachdenken, nur ein Werkzeug des Unterbewussten", sagt Gigerenzer.
Der schlechteste Ratgeber bei der Entscheidungsfindung ist nach Meinung des Wissenschaftlers übrigens: die Angst. "Defensives Entscheiden" nennt Gigerenzer das. Die Angst davor, etwas Neues zu versuchen, weil es ja schiefgehen und einen am Ende dumm dastehen lassen könnte, führe zu einem Stillstand der Ideen.
Aber mit Idealen ist das eben so eine Sache: Nur wenige Menschen kommen im Alltag an sie heran, seien es nun wissenschaftliche Ideale oder ihre persönlichen. Und deswegen bleibt Entscheiden nun mal eine ziemlich komplizierte Angelegenheit - und es ist auch eine Typfrage. Ein Überblick mit Augenzwinkern.
Der Wissenschaftler
Ohne Zahlen geht bei ihm gar nichts. Wenn er entscheiden soll, wälzt er Akten, Studien, Statistiken. Schlecht sieht es aus für die Mitarbeiter, die Fußnote 378 nicht sofort auswendig parat haben. Ein bisschen Vorbereitung kann man doch wohl erwarten! Der Wissenschaftler würde sich niemals auf sein Gefühl verlassen. Wozu hat man die Kollegen aus der Marktforschung? Vorteil für die Truppe: Der Wissenschaftler ist offen für Argumente, zumindest solange sie mit irgendeinem bunten Balkendiagramm verdeutlicht werden. Wenn er jemanden befördern soll, wird er den nehmen, der seine Erfolge und seine Qualifikation am hübschesten in eine Powerpoint-Präsentation verpackt. Und wenn er dann - endlich! - seine Entscheidung verkündet, darf man sich sicher sein: Der Typus Wissenschaftler kann sie auch in aller Ausführlichkeit begründen.
Der Einfühlsame
Er möchte, dass sich alle wohlfühlen. Und vor allem möchte er von allen geliebt werden. Deshalb lässt der Einfühlsame auch nie offensiv den Chef raushängen. Bei ihm geht es demokratisch zu, ein Sesselkreis mit Kaffee und Keksen am Freitagnachmittag gehört bei ihm zum Pflichtprogramm. Da darf dann jeder vortragen, was ihn gerade bewegt. Der Einfühlsame spricht stets mit sanfter Stimme, das einzige Personalpronomen in seinem Wortschatz lautet "wir". "Wir sollten bald einen Nachfolger für Bernd als Abteilungsleiter benennen", ist seine Art mitzuteilen, dass in den nächsten Wochen jeder mal vortanzen darf, der gerne der neue Bernd werden will. "Wir werden Inga jetzt mal diese Chance geben", lautet dann die Absage an alle, die nicht Inga sind. Macht aber nichts. Wer sich schlecht fühlt, kann das nächsten Freitag beim Sesselkreis zur Sprache bringen. Total offen. Echt jetzt.
Der Choleriker
Ihr wollt eine Entscheidung? Ihr kriegt eure verdammte Entscheidung! Der Choleriker ist eigentlich ein herzensguter Typ. Bloß unter Druck, da platzt ihm nun mal gelegentlich der Kragen. Und weil Entscheidungen immer Druck bedeuten, sagt der Choleriker nicht einfach, wie es nun weitergehen soll, er schreit es. Und manchmal schreit er vielleicht schon, bevor er sich entschieden hat. Weswegen er gerne radikale Maßnahmen über den Flur brüllt und irgendjemandes Kündigung verlautbart, den er im Grunde seines Herzens eigentlich befördern wollte. Macht aber nichts, denn der Choleriker weiß besser als alle anderen: Man muss nicht alles wörtlich nehmen. Wer also dienstags vom Choleriker spontan gefeuert wird, der tut gut daran, mittwochs wieder bei der Arbeit zu erscheinen. Da will der Choleriker dann nämlich gerne noch mal reden. Auch wegen der Beförderung.
Der Zauderer
Er agiert nach dem Motto: "Wer nichts wagt, der nichts verliert." Die Angst vor negativen Konsequenzen ist sein treuester Begleiter. Wenn dieser Typus zufällig in einer Führungsposition landet, haben seine Mitarbeiter erst mal kein leichtes Leben. Denn selbst wenn er nur über die Farbe der diesjährigen Weihnachtskarten entscheiden soll, bricht ihm der Schweiß aus. Vielleicht ist Blau zu langweilig? Vielleicht ist Gold zu protzig? Er zögert oft und ausgiebig und hält auch mal tagelang den Betrieb auf, weil er sich nicht entscheiden kann. Seine liebste Strategie heißt: aussitzen. Manches erledigt sich schließlich irgendwann von allein, nicht wahr?
Die unvermeidlichen Entscheidungen lässt er sich von einem einfühlsamen Assistenten oder einer Assistentin, nun ja, nahelegen. Diese dezente Vorzimmerperle gilt bei den Mitarbeitern längst als heimlicher Boss der Truppe. Wer mehr Geld will, muss vor allem die Perle überzeugen. Die erklärt dann dem Zauderer, dass er, der Zauderer, diese Gehaltserhöhung total sinnvoll findet. Hat sich die Gruppendynamik eingespielt, haben die Mitarbeiter immerhin viel Entscheidungsfreiheit.
Der Charismatiker
Er ist der Überchef. Er ist gut angezogen, emotional ausgeglichen und gerecht. Er ist morgens immer der Erste, macht aber niemandem ein schlechtes Gewissen, der erst um zehn nach neun völlig abgekämpft in seinen Schreibtischsessel fällt. Er ist freundlich, ohne anbiedernd zu sein, er ist korrekt, aber kein Spießer. Er kommuniziert klar, er entscheidet schnell und nachvollziehbar. Er ist ein Manager wie aus dem Lehrbuch und sieht dabei auch noch aus wie aus dem Katalog. Deshalb lieben ihn seine Mitarbeiter und begegnen ihm in aufrichtiger Verehrung. Und ja: Er weiß es. Und er liebt es. Gut, mitunter hat er einen Spiegel zu viel im Büro. Aber hey, er gefällt sich eben in seiner Rolle. Und das ist ja auch eine ziemlich gute Entscheidung.