Ratgeber:236 ungelesene E-Mails

Ratgeber: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Viele Menschen fühlen sich von der täglichen Flut an E-Mails getrieben. Sie haben das Gefühl, niemals mit der Arbeit fertig zu werden. Wie Sie den Stress beenden.

Von Larissa Holzki

Die Idee klingt rebellisch. Inbox Infinity: Der Posteingang ist unendlich. Unter diesem Begriff hat die Journalistin Taylor Lorenz vorgeschlagen, den E-Mail-Stress zu beenden. Schon wieder 17 ungelesene Mails? 236? Oder gar 3749? In beruflichen Posteingängen kann das Versagensängste auslösen, in privaten sozialen Stress. Schluss damit. Die Flut aus Nachrichten, Rundmails, Benachrichtigungen von Netzwerken, Newslettern und Werbung sei 2019 so groß, dass der Anspruch, sie alle anzusehen oder gar darauf zu reagieren, nicht mehr gelten kann. Lorenz rät deshalb zum öffentlichen Bekenntnis: Ich bekomme zu viele Mails und werde nicht jede beantworten.

Der Vorschlag ist der radikale Gegenentwurf zu Inbox Zero. Mit diesem Prinzip hat der Blogger Merlin Mann von 2007 an versucht, aus Menschen bessere Mailer zu machen. Die Angst, eine Deadline zu verpassen, sich Ärger mit Kollegen einzuhandeln oder einen Kunden zu vergraulen, weil sie eine Mail übersehen haben, kannten viele Berufstätige schon damals. Sicherheit davor verspricht nur Inbox Zero, null ungelesene E-Mails.

Wie die zu erreichen sind, erklärte Mann auch. Aber der durchschnittliche Internetnutzer war und ist nicht diszipliniert genug. Obwohl neben dem Blogger auch Hirnforscher und Jobcoaches andere Strategien vorschlagen, heißt die Routine: eben mal die Mails checken.

So oder so ähnlich machen es viele: Sie öffnen ihr Mailprogramm mit dem Computerstart und überfliegen den Eingang. Wer hat geschrieben? Was sieht wichtig aus? In die Mail der Chefin muss man reinschauen. Und wenn eine Reaktion erforderlich ist - aber nicht sofort - kommt eine Markierung dran. Im schlimmsten Fall wiederholt sich das mehrmals pro Tag.

Löschen, delegieren, beantworten, erledigen - oder aufschieben?

Weil priorisieren und entscheiden für das Gehirn anstrengend ist, sind die Mailchecker schnell erschöpft, haben aber das Gefühl, nichts geschafft zu haben. Und das macht Stress. Trotz aller Warnungen nutzen viele auch die Desktopbenachrichtigung. Geht eine Mail ein, ploppt ein kleines Fenster am Bildschirmrand auf. Der Vorteil: Absender und Textanfang lassen oft schon abschätzen, ob da etwas Wichtiges gekommen ist. Der Nachteil: Plopp, wieder abgelenkt.

Inbox Zero im Sinne von Merlin Mann heißt nicht, dass man auf alles sofort antworten muss. Er schlägt begrenzte Zeitfenster für die Bearbeitung vor und drängt dann zur Entscheidung für eine von fünf Aktionen: löschen, delegieren, beantworten, erledigen - oder aufschieben. Diese fünfte Option ist kein Zugeständnis an Prokrastinierer. Keine Lust ist jedenfalls kein Grund zum Aufschieben.

Mit diesen Maßnahmen bleibt der Posteingang sauber

Das Prinzip Inbox Zero soll so oft es geht vermeiden, dass Mails ein zweites Mal angefasst werden müssen. Aber es gibt Situationen, in denen sofort antworten oder erledigen eben nicht möglich ist: wenn eine Auskunft erst nach einem Meeting gegeben werden kann zum Beispiel. Merlin Mann empfiehlt für solche Fälle, sich eine Erinnerung in den Kalender zu schreiben und hat selbst für aufgeschobene Antworten einen "Zu beantworten"-Ordner angelegt. Bleibt die Frage, ob mit diesem Verfahren die leere Inbox im Jahr 2019 wirklich noch praktikabel ist. Und was ist die Alternative? Die Infinity-Devise von Lorenz klingt zwar bequemer. Aber sie ist auch eine Kapitulation. Viele Berufstätige würden mit dieser Haltung ihren Job oder ihre Kunden verlieren.

Für Marco Peters klingt die Idee völlig absurd. "Wenn ich es nicht schaffe, mein Postfach jeden Tag oder zumindest mehrmals pro Woche zu leeren, dann stimmt irgendetwas nicht", sagt der gelernte Informationselektroniker. Dann sei entweder die Arbeitslast zu hoch oder die E-Mail würde nicht richtig genutzt. Peters kennt sich aus mit der Installation von Kommunikationstechnik und berät Unternehmen darin, wie man sie verwendet.

"Als Erstes sollten Sie sich darum kümmern, dass Sie nur Mails bekommen, die wirklich für sie bestimmt sind", sagt Peters. Dazu gehört, unerwünschte Newsletter abzubestellen. Trotz Datenschutzgrundverordnung rutschen noch immer ungebetene Nachrichten in die Posteingänge. Unnötig belastend sind auch Anfragen von Kunden, die ins Aufgabenfeld eines Kollegen fallen. Hier hilft es, wenn der richtige Ansprechpartner den Kunden bittet, sich immer direkt an ihn zu wenden, damit sein Anliegen schneller bearbeitet werden kann. Außerdem gilt es, sich aus der CC-Zeile zu befreien. Dort gehört nur hinein, wer die verbreiteten Informationen wirklich lesen will oder muss.

Peters empfiehlt allen Unternehmen sogar, die interne Kommunikation komplett aus der E-Mail zu verbannen. "Diese sollte über ein Social Intranet laufen." Gemeint sind damit interne Netzwerke, in denen Kollegen live kommunizieren, Dateien gemeinsam bearbeiten und anderen zur Verfügung stellen können. Verbreitet sind Slack und Microsoft Teams.

Unter diesen Voraussetzungen gelingt es Marco Peters, seinen Posteingang sauber zu halten. Seine Methode ist ähnlich wie Inbox Zero und kommt mit zwei Ordnern aus: Posteingang und Archiv. Auch bei Peters darf es keine als ungelesen markierte Mail mehr geben, wenn er das Programm schließt. Dabei liest er längst nicht alles. "Oftmals klicke ich gar nicht rein. Ich sehe ja im Betreff und in der Vorschau, worum es geht." Das reicht häufig für die Entscheidung: antworten, weiterleiten, löschen, unbeachtet archivieren oder zur späteren Bearbeitung im Posteingang aufbewahren - nun als gelesen markiert.

Betreffzeile mit Bedacht wählen

Durch das Archivieren sieht Peters beim Öffnen des Mailprogramms nur E-Mails, um die er sich noch kümmern muss. Das schafft er in der Regel am gleichen Tag, danach ist der Posteingang wirklich leer. Die Archivierfunktion ist etwa bei Office 365, iCloud und Gmail verfügbar. Sie eignet sich für alles, was man irgendwann noch einmal brauchen könnte. Eine geöffnete oder markierte Mail verschwindet per Klick auf den Button "Archiv" aus dem Posteingang. Auf dem iPhone wird die Mail in der Listenansicht nach links gewischt. Wenn IT-Experte Peters etwas sucht, recherchiert er im Archiv wie in einer Suchmaschine. Die Zeit, Unterordner zu sortieren, spart er sich.

Wer schon beim Schreiben ans Empfangen und Durchsuchen denkt, befolgt automatisch eine weitere Regel von Peters: Betreff mit Bedacht wählen. "Ich formuliere den Betreff immer so, dass er eine Zusammenfassung der E-Mail ist", sagt er. Einige Firmen verfolgten gar das Prinzip, vorneweg die Projektnummer zu stellen, um die es geht. So weit würde Marco Peters nicht gehen. Aber eins ist klar: Wer einfach auf irgendeine Mail antwortet, ohne den Betreff zu ändern, erschwert all denjenigen die Arbeit, die das Ziel Inbox Zero noch nicht aufgegeben haben.

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