Süddeutsche Zeitung

Einstieg in die Rente:Wie die Freiheit nicht zur Last wird

Sie bauen das Haus um, legen den Garten neu an oder restaurieren Oldtimer: Viele Menschen fallen nach dem Eintritt in die Rente in ein Loch. Wie man der Leere nach dem Arbeitsende vorbeugen kann, erklärt eine Ruhestands-Expertin.

Fast anderthalb Millionen Menschen gehen jedes Jahr in Deutschland in den Ruhestand. Die meisten von ihnen sind dann erst Anfang 60, fit, aktiv und haben noch viele Jahre vor sich. Geplant wird diese Phase des Lebens oft nicht, stattdessen lassen viele Arbeitnehmer den Ruhestand einfach auf sich zukommen - und fallen dann in ein Loch.

Das muss nicht sein, sagt Sigi Clarenbach, Sozialpädagogin an der Evangelischen Akademie Bad Boll in Baden-Württemberg. Sie bereitet angehende Ruheständler in Seminaren auf den neuen Lebensabschnitt vor. Ginge es nach ihr, sollte die Vorbereitung auf die Pensionierung schon zehn Jahre vorher überdacht werden. "Die Leute, die heute in Rente gehen, sind fitter, gesünder und offener als früher", sagt Clarenbach. "Sie freuen sich auf die Rente." Doch dann müssen sie sich an ihre neue Freiheit erst einmal gewöhnen.

So ging es auch Wolfgang Stäbler. Der Service-Ingenieur hatte sich jahrelang bei der Telekom um Probleme der Kunden gekümmert. Mit 62 Jahren ging er in den passiven Abschnitt seiner Altersteilzeit - und fuhr erst einmal mit seiner Frau in den Urlaub. Vorbereitet hatte er sich auf diesen neuen Lebensabschnitt nicht. "Ich habe keine Angst, dass ich in ein Loch falle", sagt er, "ich habe mich mein Leben lang noch nie gelangweilt."

Erst Entspannung, dann Aktionismus

Der Absturz kann trotzdem kommen, weiß Stephanie Uhlig. Die Personalentwicklerin unterscheidet drei problematische Kategorien von angehenden Ruheständlern. Danach ist Stäbler ein sogenannter Vermeider. Diese lassen den Ruhestand ungeplant auf sich zukommen und schalten erst einmal ab.

Oft sind es gerade Menschen, die vorher viel gearbeitet und sich über ihren Job definiert haben. Nach der Phase der Entspannung kommt die Erkenntnis, dass man in der Firma ersetzbar ist. Dann starten Vermeider schnell neue Projekte, bauen das Haus um, legen den Garten neu an oder restaurieren plötzlich Oldtimer. Mit solchem Aktionismus überfordern sie häufig ihre Partner und bringen sich selbst an körperliche Grenzen, warnt Uhlig.

Bei den Übermotivierten hingegen beginnt der Aktionismus direkt nach dem Eintritt in den Lebensabschnitt nach der Berufstätigkeit. "Sie wollen im Ruhestand alles machen, was sie vorher nicht machen konnten: Motorrad fahren, Fliegenfischen lernen oder den Jagdschein machen", sagt Uhlig. "Ich hatte schon Männer vor mir, die waren den Tränen nahe, weil sie einfach nicht wussten, wo sie anfangen sollten."

Der Plan, sich mit all den neuen Möglichkeiten vom Berufsende ablenken zu können, geht nicht auf. Enttäuschung macht sich breit, und wie beim Vermeider kommt die Erkenntnis, dass man nicht mehr gebraucht wird.

Wo will ich noch hin?

Am besten dürfte es denjenigen gehen, die Uhlig Realisten nennt. "Sie wissen schon lange vorher, dass sie sich vorbereiten müssen, wenn ihnen nicht später die Decke auf den Kopf fallen soll", erklärt die Personalentwicklerin. Der Realist hat deswegen vorgesorgt. Er ist während seiner Berufstätigkeit in soziale Projekte oder Sportvereine eingestiegen und hat sich eine Struktur für die Zeit nach dem Arbeitsleben aufgebaut.

Uhlig empfiehlt: "Wer nicht in ein Loch fallen will, sollte sich schon mindestens fünf Jahre vor dem Ruhestand ein Parallelprogramm aufgebaut haben." Mitte 50 ist der Zeitpunkt, an dem man sich fragen sollte: Kann ich die nächsten zehn Jahre durchhalten? Wo will ich noch hin?

Fünf Jahre vor dem Ruhestand sollte jeder nachdenken, was man von der Arbeit außer einem regelmäßigen Gehalt noch bekommt, meint Clarenbach. "Vielen bietet der Job Anerkennung, Identität, die Möglichkeit, kreativ zu sein." Angehende Ruheständler müssten sich überlegen, wo sie all das dann herbekämen. Ehrenamtliche Aufgaben oder Sport im Verein können neue Quellen für Anerkennung sein.

Zunächst einmal kann aber eine Auszeit sinnvoll sein. Clarenbach empfiehlt direkt nach dem Ausstieg eine Ruhephase, um mit dem Berufsleben bewusst abzuschließen. Das könne etwa ein Urlaub sein. Doch irgendwann wird klar, dass das nicht ewig dauern kann. "Dann sollte ich schauen, was bisher in meinem Leben zu kurz gekommen ist", rät Clarenbach. So kommt vielleicht das Engagement in einem Verein infrage, das nun ausgeweitet werden kann und weiterhin Halt und Struktur bietet. Oder man widmet sich einem Hobby oder tatsächlich dem Hausumbau, der schon lange ansteht.

So geht auch Wolfgang Stäbler seinen Ruhestand an. Den Urlaub hat er hinter sich, nun will er regelmäßig schwimmen, bastelt am Haus und genießt Kunstausstellungen mit seiner Frau. Doch immer wieder ertappt er sich am Sonntagabend bei dem Gedanken: "Was muss ich noch für Montag erledigen? Hab' ich schon die Brote geschmiert?"

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SZ vom 23.02.2013/dpa/Anja Reumschüssel/jobr
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