Einkommen:Trotz 65 Wochenstunden auf Sozialhilfe-Niveau

Jobs unter fünf Euro brutto pro Stunde sind in manchen Branchen keine Seltenheit. Doch die Gewerkschaften wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn.

Von der aktuellen Debatte um einen gesetzlichen Mindestlohn hat Frank Sägebarth noch nichts mitbekommen. Dabei betrifft das Thema den "Wachmann Sägebarth", wie er sich am Telefon meldet, persönlich. Etwa 850 Euro brutto im Monat verdient der Familienvater, der für eine große europäische Institution im Wach- und Telefondienst arbeitet - in Vollzeit, manchmal bis zu 65 Stunden pro Woche. Bezöge seine Frau nicht Sozialhilfe, hätten sie mit ihren drei Kindern überhaupt kein Auskommen.

Unbezahlte Mehrarbeit

Sägebarth gehört in seinem Metier keineswegs zu den schlecht Bezahlten. In den neuen Ländern werben Sicherheitsunternehmen in Stellenangeboten mit Bruttolöhnen von 3,80 Euro pro Stunde. Auch im Einzelhandel sind reale Stundenentgelte von unter fünf Euro keine Seltenheit. Erst kürzlich geriet etwa die Lebensmittelkette Norma in die Schusslinie, weil sie ihre Mitarbeiter zu unbezahlter Mehrarbeit anhalten soll. Billigarbeit ist in Deutschland offensichtlich auf dem Vormarsch.

Nun machte Grünen-Chef Reinhard Bütiköfer einen altbekannten Vorschlag: die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Der große Koalitionspartner zeigt sich aufgeschlossen, möchte sich aber noch nicht festlegen. SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter gibt sich bedächtig: Erst sei zu prüfen, ob das ein sinnvolles Instrument sei. Genau das bezweifeln jedoch neben Wirtschaftsfachleuten auch Gewerkschaftsführer.

Gerade im Niedriglohnbereich könnten tausende neue Jobs entstehen, glaubt Klaus Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Mindestlöhne würden das verhindern und so den gering Qualifizierten am meisten schaden. Diese Sorgen werden in Großbritannien offenbar nicht geteilt: Die Regierung Blair hat 1999 einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, der zurzeit 7,15 Euro pro Stunde beträgt - zwei Euro über dem, was Sägebarth bekommt. Die Arbeitslosenquote liegt auf der Insel bei - für deutsche Verhältnisse - traumhaften fünf Prozent.

Illegales Lohndumping

Auch die deutschen Gewerkschaften wollen von einem gesetzlichen Mindestlohn nichts wissen. DGB-Chef Michael Sommer hält die von den Grünen angestoßene Debatte für "ein klassisches Manöver, um das schlechte Gewissen zu beruhigen". Das eigentliche Problem seien die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose, auf die sich Regierung und Opposition im Dezember im Vermittlungsausschuss geeinigt hatten. Danach sollen ab 2005 Bezieher des neuen Arbeitslosengeldes II jede angebotene Arbeit annehmen müssen - selbst wenn sie nicht nach Tarif oder ortsüblichem Niveau bezahlt wird.

Dass der die Staat die Lohnhöhe reguliert, wollen die Arbeitnehmerorganisationen auf keinen Fall. Sie fürchten um ihr Heiligstes: die Tarifautonomie. "Mindestlöhne gibt es in den Ländern, in denen es schwache Gewerkschaften gibt", findet IG-BCE-Boss Hubertus Schmoldt. Und dies sei in Deutschland nicht der Fall. Die Gewerkschaften fühlen sich mit ihren gut sieben Millionen Mitgliedern offenbar immer noch stark genug, Arbeitnehmer in Deutschland vor Armutslöhnen zu bewahren.

Tatsächlich haben sie mit den Arbeitgebern für einige Branchen Mindestentgelte ausgehandelt, die per Gesetz für allgemein verbindlich erklärt wurden. So darf auf westdeutschen Baustellen kein Facharbeiter weniger als 12,47 Euro pro Stunde verdienen, in den neuen Bundesländern ist weniger als 9,65 Euro illegal. Was die Arbeiter allerdings tatsächlich mit nach Hause nehmen, dürfte oft erheblich darunter liegen, denn immer wieder gibt es Beschwerden über illegales Lohndumping in der Baubranche.

Mini-Lohn im Tarifvertrag

Die Mini-Löhne im Bewachungsgewerbe sind indes rechtlich nicht zu beanstanden: Sie stehen im Tarifvertrag. In Thüringen beträgt das allgemein verbindliche Grundentgelt für Wachpersonal 4,32 Euro pro Stunde. Ver.Di fordert mehr, doch die Arbeitgeber beharren auf einer Nullrunde. Im Lohn-Poker hat ver.Di nicht viel in die Waagschale zu werfen: Nur 25 Prozent der Wachleute sind gewerkschaftlich organisiert. Wäre hier nicht eine gesetzliche Regelung sinnvoll? DGB-Sprecher Hilmar Höhn verneint: "Wenn die Leute nicht in der Gewerkschaft sind, kann man ihnen nicht helfen."

Von den Gewerkschaftschefs wagt einzig Frank Bsirske gelegentlich einen Vorstoß in Sachen Mindestlohn. Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.Di kennt die Nöte der Billig-Jobber. Im Februar forderte das Grünen-Mitglied, für die Regelarbeitszeit ein Entgelt von wenigstens 1.500 Euro brutto im Monat gesetzlich festzuschreiben. Sein Vorschlag fand in der Politik nicht viel Gehör. Wachmann Sägebarth könnte sich mit der Idee allerdings anfreunden. Für ihn würde sich der Lohn damit fast verdoppeln.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: