Duales System in der Ausbildung:Die Lehre geht in die Lehre

Lehrlingsausbildung der Handwerkskammer

Auch die Metallbranche hat offene Stellen: Zwei angehende Metallbauer üben das Schweißen.

(Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa)
  • Das neue Ausbildungsjahr beginnt, viele Unternehmen beklagen Nachwuchsprobleme, Akademikerschwemme und Fachkräftemangel.
  • Mit verschiedenen Programmen sollen Schulabgänger daher für eine Ausbildung begeistert werden.
  • Schwache Absolventen sollen Unterstützung in der Lehre erhalten, für Abiturienten sollen Anreize geschaffen werden, damit sie eine Ausbildung dem Studium vorziehen.

Von Johann Osel

Witze gibt es zur Genüge über die schwäbische Gründlichkeit, den Drang, alles ein bisschen korrekter als korrekt zu machen. Doch erlebt man diese Eigenschaft in der Praxis, ist sie vor allem eines: beeindruckend. Tuttlingen, im Süden Baden-Württembergs, Chiron-Werke, einer jener Maschinenbauer, die in der Provinz versteckt, aber weltweit erfolgreich sind.

Wenn Patrick Aiple an der Fräsmaschine übt, geht es um Hundertstel Millimeter. Der 21-Jährige ist frisch ausgelernter Zerspanungsmechaniker, er ist deutscher Meister im CNC-Fräsen und Mitglied im Azubi-Nationalteam. Hartes Training steht für ihn an, für die Weltmeisterschaft der Berufe, diesmal treten sie in Brasilien gegeneinander an, die besten Mechatroniker, Installateure, Schreiner, Fliesenleger, Floristen, Restaurantfachleute. Die Elite des Dualen Systems, das Unternehmen wird da zum Trainingslager.

Etwa eine Million Befehle zeigt Aiples Bildschirm an für ein Maschinenteil aus Stahl, mit feinsten Rillen, Löchern, Gewinden, Winkeln, Rundungen. Stimmt etwas nicht, dann wird der Fehler nachgemacht vom Bohrer, der sich nebenan mit Tausenden Umdrehungen pro Minute ins Metall schält, mit schrillem Lärm und Bergen von Spänen. Programmieren, fräsen, nachmessen, korrigieren, fräsen. Die WM-Aufgabe wird vier Stunden dauern. "Da muscht du übe, übe, übe", sagt der junge Mann in bestem Schwäbisch. Schon die Fräsmaschine im Technikraum der Realschule habe ihm "wahnsinnig Spaß gemacht". Viele Kumpels hätten nicht gewusst, was sie nach der mittleren Reife machen sollten - seien weitergegangen zum Fachabitur, hätten halt irgendwas studiert. "Studiert, nur damit sie studieren, ohne ein Ziel. Ich verstehe das nicht so recht."

250 000 junge Erwachsene gelten als "nicht ausbildungsfähig"

Wenn diese Woche das Ausbildungsjahr beginnt, werden Nachwuchssorgen wieder allgegenwärtig sein, werden Fachkräftemangel und Akademikerschwemme beklagt. Seit Jahren gibt es mehr freie Stellen als unversorgte Bewerber. Neu-Azubis und Studienanfänger sind inzwischen zahlenmäßig gleichauf. Handwerk und Dienstleistung trifft das am stärksten, vor allem Gehör finden Industrie und Technik. Hier schwingt stets der Unterton mit, dass der Wirtschaftsstandort, ja der Wohlstand der Republik auf der Kippe steht - und nicht, dass nur keiner mehr die Semmeln bäckt.

Neulich in Berlin, Bundeswirtschaftsministerium, eine von den vielen Tagungen, Gipfeln, Expertenrunden für das gemeinsame Klagelied. "MINT Zukunft schaffen" heißt der Veranstalter, gegründet von den Bundesverbänden Industrie und Arbeitgeber. MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik, früher hatte die Initiative verstärkt um mehr Ingenieure geworben, heute dominiert die Ausbildungslücke. Ihr Chef Thomas Sattelberger, ehemaliger Personal-Vorstand der Telekom, ist in seiner Rede nicht zimperlich. "Akademiker-Schwemme" ist für ihn das Unwort des Jahres. Natürlich, sagt er, wurde "das Studium zu lange und fälschlicherweise als Königsweg angepriesen". Dass sich alle aufs Studium stürzen, sei jedoch ein hausgemachtes Problem der Unternehmen: Deren Duale Ausbildung, deren "Produkt ist nicht mehr attraktiv genug". Schlechtes Angebot, schlechte Nachfrage. "Marktkräfte" eben, meint Sattelberger.

Man könnte auch sagen: Die Lehre muss in die Lehre gehen. Um attraktiver zu werden für leistungsstarke Schüler, als Alternative auch für Abiturienten.

"Man muss nicht gegenüber der akademischen Bildung unentwegt lamentieren"

Meisterschaften - "Worldskills" heißen sie - sind da ein Beispiel. Der Bezug zum Sport kommt nicht von ungefähr. Jeden Tag trainiert Aiple, mit Mental-Trainerin sogar, damit er den Prozess im Kopf durchgeht, den idealen Bohrer blind herausholt. "Es ist wie im Fußball, da gibt es auch nicht den perfekten Weg zum Toreschießen, man muss Strategien probieren", sagt er. Der Fleiß wird ihm in Brasilien Mitte August Platz sechs bringen, eine Exzellenz-Medaille. "Man muss nicht gegenüber der akademischen Bildung unentwegt lamentieren", sagen die Worldskills-Organisatoren. "Besser: positiv stimulieren."

Wie das gehen kann, erkundete vor zwei Monaten ein weiterer Gipfel, da war sogar Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) gekommen. Beschlossen wurde ein Ausbau von "erweiterten Karriereperspektiven", die über den Meister oder dergleichen hinausgehen. Im Ansatz gibt es das, eine Datenbank registriert die vielen Plus-Angebote für starke Azubis: Fremdsprachen, Praktika im Ausland; Kaufmänner lernen zusätzlich etwas über fairen Handel, Handwerker etwas über Bauwirtschaft. Banales wie einen Staplerführerschein kann man hinzurechnen.

Coach für Azubis mit Problemen

In Umfragen gibt aber mehr als die Hälfte der Azubis an, dass ihr Betrieb ihnen das nicht ermöglicht. Nur vier Prozent der Lehrlinge dürfen ins Ausland. Viele engagierte Firmen knausern bei der Arbeitsentlastung für Zertifikate, die vollen Kosten tragen wenige. Je kleiner die Firma, desto geringer die Chancen. Aufwind erfährt allerdings das Duale Studium, das Lehre und Bachelor kombiniert - wobei man letztlich wieder Akademiker hervorbringt.

Und die schwächeren Schüler? Es ist ja paradox. Betriebe klagen einerseits über ausbleibenden Nachwuchs. Andererseits beenden bundesweit gut sechs Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss; und mit dem Ende der Hauptschulen in den meisten Ländern wurde keineswegs dieser Abschluss abgeschafft, jeder vierte Schüler macht ihn, auch an Schulen, die nach dem Willen ihrer Minister zu höheren Zielen führen. Als Schulabbrecher eine Lehre? Schier unmöglich. Und laut einer Gewerkschaftsanalyse haben auch Hauptschüler wenig Chancen; zwei Drittel aller Stellen seien für Realschüler reserviert. Eine Viertelmillion junge Erwachsene sitzen in Warteschleifen, gelten als "nicht ausbildungsfähig". Auch hier tut sich nun etwas.

Langsamer als bei den besten Azubis. Dennis Böhme sagt von sich, dass er ein schüchterner Typ ist und "nicht so gut mit Leuten kann". Man glaubt es ihm, wie er die Arme verschränkt, macht er sich selbst etwas kleiner. Obwohl jeder Mensch klein wirkt in dieser Szenerie, in der Lastwagen-Fabrik von MAN im Landkreis Dachau, wo tonnenschwere Fahrzeuge Stück für Stück zusammenwachsen.

Aber Böhme, 18, taut auf, wenn er von seiner Lehre erzählt, er ist überrascht, wie frei er spricht. Zu erzählen hat er diese Geschichte: dass er den qualifizierten Hauptschulabschluss gemacht hat, nicht schlecht, auch nicht berauschend; dass er an eine Lehre zum Automechaniker dachte - die schwer zu bekommen ist, für den Jungs-Traumjob sind beste Noten üblich, generell sind unter Kfz-Azubis nur noch 38 Prozent Hauptschüler. Dass ein Berufsberater in die Schule kam, Stärken-Schwächen-Analysen mitbrachte und ein spezielles Projekt: "Power me", eine Idee der Metall- und Elektro-Industrie in Bayern. Da hat Böhme erfahren, dass es den Beruf Karosserie- und Fahrzeugbaumechaniker gibt - und es gab zur Lehrstelle einen Coach an die Seite, der bei ihm, im Betrieb, in der Berufsschule ständig nachhorchte, ob es gut läuft. Der Azubi bekam zudem Nachhilfe, einmal die Woche nach der Schicht, "alles, was ich nicht so kapiert habe in der Berufsschule".

Aber ist es nicht Stigmatisierung, eine Gruppe mit Problemen so zu definieren? Böhme sagt: "Wer so was denkt, ist selber schuld. Man muss das ausnutzen, wenn es hilft." Sein Ausbildungsleiter spricht von einem "Rundum-Paket, das am Ende der Schule ansetzt und dabei bleibt, bis alles in trockenen Tüchern ist". In dem Fall funktionierte das, nun soll es eine feste Schiene werden, mit ähnlichem Konzept, bundesweit, für alle Branchen. Die Bundesagentur für Arbeit führt die assistierte Ausbildung ein, in diesem Lehrjahr sind Tausende Plätze vorgesehen. Bei der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft heißt es: "Um die Ausbildungslücke zu kompensieren, müssen wir neue Potenziale erschließen, insbesondere von leistungsschwächeren oder sozial benachteiligten Jugendlichen."

Was hart klingt, können schlichtweg Startschwierigkeiten sein, Schüchternheit gepaart mit Schulfrust. Beispiel Böhme. Der hat seine Lehre fertig und ein "Blech-Händchen", wie man im Werk sagt. Er erlangte an der Berufsschule das beste Zeugnis seines Lebens, fast eine glatte Zwei. Damit will er weitermachen, an der Oberschule Berufsabitur machen. Wenn das klappt: studieren. Das Duale System kann ihn nicht halten. Doch ist das auch ein schöner Beleg für die Durchlässigkeit heutzutage.

Schüler fühlen sich über die Berufswelt nicht gut informiert

Chancen für die Schwächeren, Anreize für die Stärkeren. Komplizierter ausdrücken lässt sich das mit Thomas Sattelberger: Firmen müssten "die Komplexität des Talentmarktes mit einer Vielfalt der Lösungen matchen". Die Standard-Ausbildung mit "kollektivierten Durchlaufprozessen" neige sich dem Ende zu. Ändern müssten sich außerdem die Schulen. Nur die Hälfte der Schüler fühlen sich über die Berufswelt gut informiert, hat das Institut Allensbach ermittelt. Auf der Berliner Tagung hört man oft: "Kein Wunder, Lehrer haben ja nichts gesehen von der Welt außer Schule, Uni, dann wieder Schule."

Zuletzt hatte der Wissenschaftsrat, die Berater von Bund und Ländern, Reformen gefordert. Auch Gymnasien müssten die Wege in ein Studium oder in eine Lehre "gleichberechtigt aufzeigen". Die Entscheidung werde oft von einer erhofften Reputation geleitet - nicht von "tatsächlichen Interessen und Fähigkeiten". Denkbar sei ein Schulfach Berufsorientierung. Das führt Baden-Württemberg gerade ein, Praktiker sollen in alle Schulen. Wirtschaftsminister Nils Schmid sagt: "Schüler wissen zu wenig über berufliche Perspektiven, die denken inzwischen alle, sie müssten studieren." Er will die "Trendwende" schaffen.

Der wichtigste Ratgeber für die Berufswahl ist allerdings die Familie, besagen die Umfragen - nicht die Schule. Viele Eltern mit höherer Bildung gehen automatisch von einem Studium für ihr Kind aus, das Duale System kommt in der Gedankenwelt erst gar nicht vor. Und auch Mütter und Väter, die selbst nicht an der Uni waren, sehen Studieren oft als alleinige Basis für gute Karrieren. Industrie- und Handelskammern versuchen, diesen Trend inzwischen mit Humor zu brechen. Eine Internetseite, die für das Duale System wirbt, heißt allen Ernstes: www.schockdeineeltern.de.

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