Druck auf Mitarbeiter:Krank, aber im Büro

Der Krankenstand deutscher Beschäftigter sinkt seit Jahren - gesünder sind sie deshalb nicht. Der soziale Druck, immer funktionieren zu müssen, wächst und wächst.

Dagmar Deckstein

Der sorglose bis fahrlässige Umgang mit Krankenakten von Mitarbeitern hat in den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt. Erst kam heraus, dass die Supermarktkette Lidl entsprechende Dossiers über die Krankheitsursachen der Beschäftigten angelegt hatte - weil eine Frau in einer Autowaschanlage zufällig einen Stapel weggeworfener, einschlägiger Fragebögen in einer Mülltonne gefunden hatte. Auch im Bremer Mercedes-Werk wurden trotz anderer Anweisung Mitarbeiterdaten unzulässig gespeichert und außerhalb des Unternehmens gebracht.

Druck auf Mitarbeiter: Seit 1980 ist der Krankenstand in deutschen Firmen von 5,5 auf 3,3 Prozent gesunken.

Seit 1980 ist der Krankenstand in deutschen Firmen von 5,5 auf 3,3 Prozent gesunken.

(Foto: Foto: dpa)

Schließlich hatte die Süddeutsche Zeitung zuletzt von einem Mitarbeiter der Ulmer Drogeriekette Müller einschlägige Fragebögen zugespielt bekommen, in denen in Rückkehrgesprächen nach einer Krankheit von den Chefs fein säuberlich Krankheitsursachen und Genesungsfortschritte verzeichnet werden.

Ruchbare Einzelfälle

Diese ruchbar gewordenen Einzelfällen im Umgang mit sensiblen Informationen über Befindlichkeiten von Arbeitnehmern erwecken den Eindruck, als ob es Arbeitgebern generell verboten sei, nach Krankheitsgründen der Beschäftigten zu fragen und sie schriftlich festzuhalten. Das sei falsch, sagt Jost-Hubertus Bauer, Arbeitsrechtsexperte der Stuttgarter Rechtsanwaltskanzlei Gleiss Lutz.

Die zum 1. Mai 2004 eingeführte neue Vorschrift des Paragraphen 84 Absatz 2 des Sozialgesetzbuches IX verpflichte Arbeitgeber sogar, für länger oder wiederholt kranke Mitarbeiter - wenn insgesamt eine Krankheitsdauer von sechs Wochen erreicht wurde - ein sogenanntes betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten. "Da liegt es natürlich auf der Hand, dass der Chef nach der Krankheitsursache fragt und das auch notiert."

Sensible Daten

Außerdem sei es nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch zulässig, schon nach der erstmaligen Erkrankung nach der Ursache zu fragen. Da ein Arbeitnehmer nach mehr als sechs Wochen Abwesenheit krankheitsbedingt gekündigt werden kann, liege es im berechtigten Interesse des Arbeitgebers, die Krankheitsgründe zu erfahren.

Keine Rechtsprechung, sondern nur herrschende Literaturmeinung liege hingegen bei der Frage vor, wie der Chef mit den sensiblen Daten zu verfahren habe: "Sie können in die Personalakte mit aufgenommen werden, allerdings am besten in einem verschlossenen Umschlag, und es muss gesichert sein, dass nicht jeder Zugriff darauf hat", sagt Arbeitsrechtler Bauer.

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Erst der Job, dann die Gesundheit

Historisch niedrigster Stand

Wie in Unternehmen mit Krankheiten verfahren wird, hat der Sozialforscher Stephan Voswinkel von der Universität Frankfurt recherchiert. "Krankheitsverleugnung: Betriebliche Gesundheitskulturen und neue Arbeitsformen" lautet sein derzeitiges Forschungsprojekt, das um eine statistische Auffälligkeit kreist: Seit 1980 ist der Krankenstand in deutschen Unternehmen von 5,5 auf 3,3 Prozent gesunken. Das ist der historisch niedrigste Stand überhaupt. Sind Deutschlands Beschäftigte also so gesund wie nie? "Nein", sagt Voswinkel, "mit dem betrieblichen Tunnelblick auf Anwesenheitsquoten hat sich vielmehr der Präsentismus verbreitet."

Mit mehr Eigenverantwortung sowie Projekt- und Teamarbeit unter Zeitdruck nähmen viele Beschäftigte den sozialen Druck ihrer Arbeitskollegen vorauseilend vorweg und räumten beruflichen Belangen Priorität vor der Gesundheit ein. "Solchen Beschäftigten fällt es schwer, sich auf die Arbeitnehmerrolle zurückzuziehen und sich krankschreiben zu lassen", sagt Voswinkel.

Mehr Druck und Disziplin

Wer sich also mit dem sprichwörtlichen Kopf unterm Arm zur Arbeit schleppt, betreibt "Krankheitsverleugnung": Die Krankheit gerät zum illegitimen Störfaktor, der unterdrückt, ignoriert oder ausgeblendet wird. Die Angst um den Arbeitsplatz in Zeiten der Wirtschaftskrise tut darüberhinaus das Ihrige zur Erhöhung der Anwesenheitsquote in den Betrieben.

US-Studien förderten zutage, dass dies aufgrund eingeschränkter Schaffenskraft für dreifach höhere Produktivitätsverluste sorgt als etwa Fehltage. In diesem Licht betrachtet trügen die durch Lidl und Müller ins Gerede gekommenen Rückkehrgespräche Voswinkel zufolge durchaus den "Doppelcharakter einer kontrollierenden Fürsorge" - einmal als Zeichen guten Arbeitgeberwillens, andererseits als Instrument für mehr Druck und Disziplin. Letztlich sei das eine Frage der Unternehmenskultur. Oder, wie die beim IG-Metall-Vorstand angesiedelte Gesundheitsexpertin Eva Zinke sagt: "Es grenzt an Zynismus, wenn Beschäftigte erst krank werden müssen, damit mit ihnen geredet wird."

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