Diskussion um die Abschaffung der Hauptschule:"Die CSU beschwört eine Wirklichkeit, die es nicht gibt"

Die CDU will tatsächlich ihre heilige Kuh, die Hauptschule, schlachten. Widerstand leistet nur noch die bayerische Schwesterpartei. Im Interview mit sueddeutsche.de erklärt Bildungsexperte Ernst Rösner, dass der CSU-Kultusminster nur die Vergangenheit beschwört, was ein modernes Schulsystem bräuchte und warum Eltern, die ihr Kind keinesfalls auf die Hauptschule schicken wollen, einfach nur rational sind.

Sebastian Gierke

Der CDU-Vorstand hat ein neues Schulkonzept ohne Hauptschulen beschlossen. Danach kehrt auch die CDU vom dreigliedrigen Schulsystem ab und tritt für den Erhalt des Gymnasiums sowie die Schaffung einer neuen Oberschule ein, die Haupt- und Realschule vereint. Dr. Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund hat schon vor mehr als 20 Jahren das Ende der Hauptschule gefordert.

CDU will sich von der Hauptschule verabschieden

Die CDU will sich von der Hauptschule verabschieden. Ein längst überfälliger Schritt, meinen viele Bildungsexperten.

(Foto: dpa)

sueddeutsche.de: 1989 haben Sie ein Buch geschrieben mit dem Titel "Abschied von der Hauptschule. Folgen einer verfehlten Schulpolitik". Jetzt schlachtet sogar die CDU ihre heilige Kuh Hauptschule. Ein später Sieg?

Dr. Ernst Rösner: Allenfalls ein bitterer Sieg. Es überwiegt das Bedauern über den späten Zeitpunkt dieser Erkenntnis. Denn man hat bei der CDU zwei Jahrzehnte lang das hohe Lied der Hauptschule gesungen und Kinder in diese Schule geschickt. Nur selten die eigenen natürlich. Und die Kinder auf der Hauptschule hatten dann kaum eine Perspektive, hatten Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und gehörten zu einer immer kleineren Gruppe, die sich ausgegrenzt fühlen musste. Dazu kommt noch, dass Millionenbeträge in dieses System geflossen sind, die man im Bildungswesen an anderer Stelle besser brauchen hätte können.

sueddeutsche.de: Die CDU hat im Jahr 2000 noch den bildungspolitischen Leitsatz vertreten, dass die Hauptschule in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aufgewertet werden muss.

Rösner: Das ist und war auch damals ein völlig unrealistisches Ziel. Es hat seit 1968, so lange gibt es die Hauptschule in Westdeutschland, nicht an Versuchen gefehlt, diese Schule attraktiv zu machen. Und in keinem Bundesland ist es jemals gelungen, den Abwärtstrend aufzuhalten.

sueddeutsche.de: Ludwig Spaenle von der CSU, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultur, sagt, in Bayern funktioniere die Hauptschule noch.

Rösner: Ach, der CSU-Kultusminister ... Der Herr Spaenle und viele in der CSU beschwören eine Wirklichkeit, die längst nicht mehr existent ist. Die Hauptschule ist auch in Bayern die Schule, die mit Abstand die meisten Schülerinnen und Schüler verliert. Weitaus mehr, als durch den demographischen Verlust bereits vorgegeben. Und wenn Herr Spaenle jetzt auf seine ach so geniale Idee verweist, die Hauptschule aufzuwerten in Form einer Mittelschule, dann ist das erstens ein Etikettenschwindel und zweitens die Kopie der Hauptschule in Nordrhein-Westfalen, die immer schon so war, wie Herr Spaenle die Mittelschule in Bayern haben will. In Nordrhein-Westfalen gehen noch 12,3 Prozent zur Hauptschule, Tendenz stark fallend.

sueddeutsche.de: Die CSU ist die letzte Bastion, die noch für die Hauptschule kämpft. Warum setzt jetzt sogar bei der CDU ein Umdenken ein?

Rösner: Die ersten Anstöße sind von Wirtschaftspolitikern der CDU gekommen. Ein Grund mag also gewesen sein, mehr Kinder höher zu qualifizieren, um auch in den Ausbildungsberufen besser geschulten Nachwuchs zu haben. Sie wollen mehr und bessere Schulabschlüsse haben. Die Hauptschule verliert ja nicht nur Schüler, weil es weniger Kinder gibt. Dann müsste das ja für alle Schulen gelten. Vielmehr zeigt sich: Die Zahl der Hauptschüler sinkt überproportional. Die Gymnasien legen zu oder halten zumindest die Schülerzahlen konstant. Das ist für die Hauptschulen tödlich, und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Regionen.

sueddeutsche.de: Worin liegt das Hauptproblem der Hauptschulen?

Rösner: Das liegt auf der Hand: Wir haben immer mehr Eltern, die immer bessere Schulabschlüsse erworben haben. Die Schulwahlentscheidung für ihre Kinder treffen die Eltern vornehmlich nach dem eigenen Schulabschluss. Mit dem Ziel: Das Kind soll einen besseren Schulabschluss haben als wir selbst. Das ist der Trend.

Zu ehrgeizige Eltern?

sueddeutsche.de: Sie die Eltern zu ehrgeizig?

Rösner: Nein, das ist kein falscher Ehrgeiz der Eltern. Das ist die rationale Sicht auf die Wirklichkeit. Für immer mehr Berufe braucht man heute einen höheren Schulabschluss als ihn die Eltern für den gleichen Beruf benötigten. Und der Beruf ist das zentrale Merkmal für den gesellschaftlichen Status. Alle Familien wollen diesen Status in der Generationenfolge zumindest erhalten. Also brauchen die Kinder eine höhere Schulausbildung. Keiner will unten sein. Und in einem hierarchisch aufgebauten Schulsystem ist die Hauptschule nun einmal unten. Und die Eltern versuchen ihren Kindern diesen Bildungsgang zu ersparen. Das ist die Dynamik, die dahintersteht und diese Dynamik ignorieren große Teile der Politik konsequent.

sueddeutsche.de: Ist die von der CDU vorgeschlagene Oberschule die Lösung?

Rösner: Nein, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Eltern wollen heute für ihre Kinder entweder das Gymnasium oder die "Schule des gemeinsamen Lernens" mit gymnasialen Standards. Also Schulen, in denen auch Studienräte unterrichten und gymnasiale Inhalte angeboten werden. Eine Schule, die das nicht anbietet, ist auf der Verliererstraße. Die CDU ist für ihre Verhältnisse einen mutigen Schritt nach vorne gegangen, aber nicht konsequent genug.

sueddeutsche.de: Sie sprechen viel über die Eltern. Aber was ist denn das Beste für die Kinder?

Rösner: Für mich ist es eine Schule, die der Unterschiedlichkeit der Kinder nach der Grundschule gerecht wird. Die also die Schwachen aufnimmt und fördert und die Starken zu Spitzenleistungen führt. Das ist, wie uns das Ausland zeigt, möglich, aber ein schwieriger Umstellungsprozess. Wir haben uns über viele Jahre an ein dreigliedriges Schulsystem gewöhnt. Mit einer fragwürdigen Begründung: Begabung. Das hat aber noch nie getragen. Sie finden in Deutschland niemanden, der ihnen erklären kann, was eine Realschülerbegabung ist. Aber dennoch sagen viele treu und fest: Wir brauchen das begabungsgerechte dreigliedrige Schulsystem. Das ist Quatsch.

sueddeutsche.de: Es gibt viele Eltern, die sagen: Gymnasium oder nichts.

Rösner: Genau. Und da könnte man jetzt einen Bürgerkrieg anzetteln und sagen: Wir stellen das Gymnasium in Frage. Das wird aber so schnell nicht passieren. Oder man ist pragmatisch und bietet den Eltern, die das Gymnasium wollen, bitteschön das Gymnasium und denen, die das nicht wollen, die den Bildungsweg für ihre Kinder länger offenhalten wollen, eine andere Schule. Aber gymnasiale Angebote müssen vom fünften Schuljahr an auf jeden Fall vorhanden sein, sonst taugt das nichts.

sueddeutsche.de: Würden Sie das bundesweit einführen?

Rösner: Ja, denn dann hätte man ein zweigleisiges System, das hochgradig übersichtlich wäre. Eine überschaubare Bildungslandschaft. Und wenn jemand von Bayern nach Nordrhein-Westfalen geht, dann weiß der auch, wo er sein Kind hinschickt. Die Vergleichbarkeit ist in diesem Fall ein hohes Gut. Was wir uns im Moment leisten: 16 Bundesländern und 16 Schulsysteme, das ist keinem Menschen mit normalem Abitur vermittelbar.

"Respekt, CDU"

sueddeutsche.de: Ist das Gymnasium nicht immer oben in der Hierarchie, ganz egal wie die anderen Schulen dann genannt werden?

sueddeutsche.de: Nein, eine Hierarchie haben sie dann, wenn sie aus Haupt- und Realschule eine Oberschule machen. Dann haben sie eine Schule ohne gymnasiale Standards. Das ist eben eine nicht gleichwertige Schule gegenüber dem Gymnasium. Und da wird dann zwar von Zweigliedrigkeit gesprochen, aber es ist eine Zweiwertigkeit. Das muss man aufheben, indem man gymnasiale Standards auch in diesen Schulen pflichtgemäß unterbringt. Das ist der Weg. Dann hat man zwei konkurrenzfähige Modelle und dann soll sich durch das Elternwahlverhalten zeigen, welches auf Dauer das begehrtere ist. Mehr kann man nicht machen.

sueddeutsche.de: Die Oberschule soll auch in den Überlegungen der CDU eine dem Gymnasium gleichwertige Schule sein. Die Lehrerverbände der Gymnasien warnen schon vor der Abschaffung ihrer Schulform. Sie warnen vor einer Schule für alle.

Rösner: Es gibt keine nennenwerte politische Kraft in dieser Republik, die das Gymnasium in Frage stellt. Die Lehrer sollen da nicht so verschreckt reagieren.

sueddeutsche.de: Die CDU überlegt ja auch, das letzte Kita-Jahr verpflichtend zu machen.

Rösner: Die Kita ist gerade für benachteiligte Kinder ein entscheidender Faktor, um sich anpassen zu können an die Herausforderungen des Schulwesens. Vor diesem Hintergrund wäre es ein sinnvoller Beitrag, wenn das letzte Jahr vor der Grundschule verpflichtend wäre. Damit folgt man dem Grundsatz: No child left behind.

sueddeutsche.de: Aber diese Forderung berührt den bildungspolitischen Markenkern der CDU noch stärker als die Abschaffung der Hauptschulen. Es soll ja noch früher von staatlicher Seite in die Bildungsbiographie des Kindes eingegriffen werden. Das Recht der Eltern, über ihr Kind zu bestimmen, würde weiter eingeschränkt.

Rösner: Das ist eine Güterabwägung. Zwischen Elternrechten einerseits und einer gesellschaftlichen Verpflichtung gegenüber benachteiligten Kindern, Kindern von Migranten zum Beispiel, andererseits. Und wenn die CDU meint, sich jetzt stärker auf die Position zwei beziehen zu müssen, bin ich überrascht und sage: Respekt. Das ist eine mutige und richtige Entscheidung, um Benachteiligungen abzubauen.

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