Digitalisierung:Virtueller Hausbesuch

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Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen nutzen Videotechnik. Die Neurologin im Krankenhaus Harlaching betreut eine Schlaganfallpatientin in Erding. (Foto: Catherina Hess)

In der sozialen Arbeit und im medizinischen Bereich können viele Beratungsgespräche auch per Video stattfinden. Die persönliche Begegnung ersetzt das nicht - und es wirft Probleme beim Datenschutz auf.

Von Miriam Hoffmeyer

Punkt 13 Uhr wählt sich die Sozialpädagogin Maria Weißberg in ihr virtuelles Wartezimmer ein: "Hallo, Frau Jensen, wie geht es Ihnen?" Auf dem Monitor erscheint eine etwa 40-jährige Frau mit Hornbrille und schulterlanger Ponyfrisur, das Gespräch führt sie im Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses in einem kleinen münsterländischen Dorf.

Maria Weißberg berät die Jensens, seit sie sich dafür entschieden haben, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen. Dustin, der ebenso wie seine Pflegemutter in Wirklichkeit anders heißt, zog im Frühjahr des vergangenen Jahres bei der vierköpfigen Familie ein, heute ist er fünf Jahre alt. Sein leiblicher Vater hatte den kleinen Jungen schwer misshandelt, die überforderte Mutter hat ihn vernachlässigt. In den ersten Monaten bei den Jensens fing Dustin häufig an zu schreien und hörte nicht mehr auf. Diese Anfälle sind nach und nach seltener geworden.

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"Wir haben ja neulich über Auffälligkeiten bei Dustin gesprochen", sagt Maria Weißberg, "jetzt habe ich ein Angebot für Sie, eine sozialpädagogisch betreute Spielgruppe in Ihrer Nähe. Die machen viele Rollenspiele. Ich habe direkt an Ihren Pflegesohn gedacht, da kann er seine Themen ansprechen. Oh, jetzt sind Sie weg!" Die Verbindung ist zusammengebrochen.

"Die Fachhochschule nebenan klaut uns mal wieder das Internet", seufzt Weißberg. Beim zweiten Versuch klappt alles, auch das Hochladen eines Flyers der Spielgruppe, sodass die Pflegemutter den Text während des Gesprächs lesen kann. Die Sozialpädagogin fragt Frau Jensen, ob sie Dustin zutraue, ohne sie an der Spielgruppe teilzunehmen. "Kontakt zu anderen Kindern hat er ja gern", sagt die Pflegemutter. "Am Anfang kann ich dabei bleiben, später schafft er es sicher allein." In diesem Moment kommt die ältere Tochter der Jensens aus der Grundschule und winkt fröhlich in die Kamera, die beiden Frauen verabschieden sich.

Seit September testet die Evangelische Jugendhilfe Münsterland, wie sich elektronische Videoberatung in der sozialen Arbeit nutzen lässt. Die gemeinnützige Gmbh mit rund 600 Mitarbeitern berät und betreut in verschiedenen Projekten etwa 2000 Kinder, Jugendliche und deren Familien in einem großflächigen, ländlich strukturierten Gebiet, in dem lange Fahrzeiten die Norm sind. In dem Pilotprojekt nutzen die Mitarbeiter die Software Elektronische Visite (elVI), die vom Ärztenetzwerk "Medizin und Mehr" (MuM) in Bünde für medizinische Online-Sprechstunden entwickelt wurde (siehe Interview).

Elektronische Videoberatung als Ergänzung

Für Frau Jensen war es das erste Videogespräch mit ihrer Beraterin. "Ich finde es besser als ein Telefonat, weil wir einander sehen können, und es ist praktisch, dass man auch Papiere zusammen anschauen kann", meint sie hinterher. "Aber ich möchte auf jeden Fall, dass Frau Weißberg auch weiterhin persönlich zu uns kommt." Das werde sie auch, versichert die Sozialpädagogin, die elektronische Videoberatung sei bloß als Ergänzung gedacht.

Das unmittelbare persönliche Gespräch - im Fachjargon "Face-to-Face-Kommunikation" genannt - bildet traditionell die Basis der sozialen Arbeit. Schließlich muss eine vertrauensvolle Beziehung zu den Klienten entstehen, um deren höchst private Probleme es geht. Viele vor allem ältere Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sind skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass eine Kommunikation über zwischengeschaltete digitale Medien genauso erfolgreich sein könnte.

Zudem stehen Fachkräfte theoretisch mit einem Bein im Gefängnis, wenn sie über ungesicherte Verbindungen kommunizieren: Sie sind laut Paragraf 203 Strafgesetzbuch verpflichtet, die Geheimnisse ihrer Klienten zu schützen. Und ein Geheimnis ist schon die Tatsache, dass jemand überhaupt psychosozial beraten wird.

Grundsätzliche inhaltliche Vorbehalte und rechtliche Risiken sind aber nur die eine Seite, wenn es um die Digitalisierung der Sozialarbeit geht. Die andere Seite ist die tägliche Praxis. Inoffiziell laufe schon seit Jahren ein beträchtlicher Teil der Kommunikation zwischen den Fachkräften und ihren Klienten über Whatsapp, Skype oder unverschlüsselte Mails, sagt Martin Klein, Professor für Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster.

"Das erlebe ich täglich", erzählt Klein. "Zum Beispiel zeigt mir eine Studentin ihr Handy und sagt, schauen Sie mal, die Mutter hat mir ihr Erziehungsgutachten gewhatsappt. Das geht absolut nicht, vertraulichere Daten sind kaum vorstellbar."

Wenn Sozialarbeiter und Sozialpädagogen solche Kommunikationswege ablehnten, bekämen sie aber erst recht Schwierigkeiten, denn die Klienten forderten dies zunehmend ein, erklärt Klein: "Um weiter professionell arbeiten zu können, brauchen wir deshalb dringend sichere Alternativen." Aus diesem Grund hat Klein das Pilotprojekt der Evangelischen Jugendhilfe Münsterland angestoßen.

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Die verwendete Software ist TÜV-zertifiziert, was Haftungsrisiken ausschließt, und hat eine Besonderheit: Sie speichert nichts. Für seine Mitarbeiter sei das elementar, sagt Jugendhilfe-Geschäftsführer Gerd Dworok: "Wenn sich hinterher jemand die Gespräche anschauen könnte, gingen die Vertraulichkeit und die Unmittelbarkeit verloren." Kein Mitarbeiter sei verpflichtet, die elektronische Videoberatung einzusetzen, betont Dworok.

Die Vorschläge, die bei einer internen Auftaktveranstaltung gesammelt wurden, zeigen, das es nicht in erster Linie darum geht, persönliche Treffen mit Klienten zu reduzieren. Gemeinsame Besprechungen mit Vertretern des Jugendamts, mit Ärzten oder Psychologen könnten aber unkomplizierter und billiger werden.

Neue Möglichkeiten für ihre Schützlinge erhofft sich die junge Sozialarbeiterin und traumapädagogische Fachberaterin Nicole Adämmer. Sie betreut in einer Intensiv-Wohngruppe neun- bis zwölfjährige Jungen und Mädchen, die durch Gewalt oder Missbrauch schwer traumatisiert sind. "Kontakte zu den Herkunftsfamilien sind oft schwierig, weil zum Beispiel ein Elternteil weit weg wohnt oder weil die Kinder, etwa nach Misshandlungen, mit einer persönlichen Begegnung überfordert wären", sagt Adämmer. "Und doch ist die Sehnsucht nach der Familie groß."

Im Online-Videogespräch könnten die Kinder den Eltern beispielsweise ihr Zimmer zeigen. "Kinder brauchen eine Antwort auf die Frage, wer sie sind, wo sie herkommen, sonst verlieren wir spätestens in der Pubertät den Zugang zu ihnen. Die Herkunftsfamilien sind oft sehr gut digitalisiert - wenn wir das nutzen, eröffnet uns das ganz neue Räume."

Angesichts der chronischen Finanzknappheit im Sozialbereich drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Digitalisierung nicht zum willkommenen Anlass werden könnte, Mittel zu kürzen. Diese Gefahr sieht auch Klein. "Natürlich könnten sich Geldgeber künftig weigern, für Fahrtkosten aufzukommen, oder verlangen, dass ein bestimmter Prozentsatz der Arbeit online stattfindet. Da wird man mit fachlichen Argumenten dagegenhalten müssen", sagt Klein. "Die elektronische Videoberatung ist nur ein Werkzeug, das in bestimmten Situationen nützlich sein kann. Es muss auch im Werkzeugkasten bleiben dürfen."

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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