Digitalisierung in der Arbeitswelt:Aufhören, sich dem Zeitgeist zu beugen

Auf dem Heimweg noch E-Mails checken oder nachts eine Telefonkonferenz mit USA? Neue Kommunikationsmittel bringen Arbeitnehmern nur vordergründig mehr Freiheit. Es kann nicht bekömmlich sein, wenn das Zuhause eine Art Außenstelle der Firma wird.

Ein Kommentar von Detlef Esslinger

Ein paar Fälle: Der Chef bittet eine Mitarbeiterin, um 23 Uhr noch ein Telefonat mit dem Kunden in Amerika zu führen. Ist das Arbeitszeit? Oder: Der Chef schickt spät am Abend eine E-Mail, dass die Sitzung am nächsten Morgen um acht in der Früh entfällt. Ist das Lesen dieser E-Mail Arbeit, kurz vor dem Zubettgehen? Und schließlich: Die junge Mutter will dreimal die Woche im Homeoffice arbeiten. Nun besteht der Betriebsrat darauf, dass die Experten von der Arbeitssicherheit bei der Frau vorbeischauen und Computer, Tisch und Stuhl inspizieren. Verrückt?

Der Münchner Arbeitsrechts-Professor Volker Rieble, einer der Führenden seines Fachs, hat diese Fälle neulich in einem Vortrag vorgestellt, und wer ihm zuhörte, dem mochte der Gedanke durch den Kopf gehen: Worin manche Menschen mal wieder alles ein Problem sehen! Ist es nicht zuvorkommend vom Chef, dass er abends noch diese E-Mail verschickt, so dass man morgens nicht ganz so früh aus dem Haus muss? Will ihm da ernsthaft jemand mit dem Arbeitszeitgesetz, Paragraf fünf, Absatz 1, kommen? "Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben", steht darin.

Es kann nicht bekömmlich sein, wenn das Heim kein Ort des Rückzugs mehr ist - sondern sich zu einer Art Außenstelle der Firma entwickelt

Beispiele haben oft den Vorteil, dass sie ein Problem konkret machen; sind sie jedoch zu possierlich gewählt, verulken sie das, was dringend besprochen gehört. In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland, wenn es um Arbeitsbedingungen ging, viel über Mindestlohn, Leiharbeit und Werkverträge debattiert. Bei Tarifverhandlungen geht es meistens um Fragen wie Lohnerhöhung und Altersteilzeit. Solch klassische Themen werden Gewerkschaftern und Arbeitgebern niemals ausgehen. Doch wem die Zukunft der Arbeit ein Anliegen ist, der wird sich auch mit den Bedrohungen befassen müssen, die sich aus der Kameraderie von Globalisierung und Digitalisierung ergeben.

Das Grundproblem dabei ist, dass die Bedrohung oft gar nicht als solche wahrgenommen wird. Hat nicht im Gegenteil ein Telefon, auf dem man auch E-Mails lesen kann, den Vorteil, dass man bei Bedarf früher aus dem Büro kann - weil sich ja auch auf dem Heimweg noch etwas wegschaffen lässt? (Ganz abgesehen von dem Statussymbol sowie der Errungenschaft, ein Gerät der Firma auch fürs private Getwittere nutzen zu können.) Erspart die Videokonferenz mit Seattle oder Singapur nicht manch lästige Dienstreise, ersetzt sie nicht manch langwierigen Briefwechsel? Und ist das Homeoffice nicht spätestens dann ein Segen, wenn in der Kita gestreikt wird, die Oma aber nicht zur Verfügung steht? Wie praktisch doch, dass man sich alles herunterladen kann.

Über Nachteile der Digitalisierung wird nicht gern geredet

Der Zeitgeist der iPhone-Generation vertraut der These, die Vermischung von Berufs- und Privatleben habe überwiegend Vorteile. Es ist eine Generation, deren Selbstwertgefühl sich aus ihrer Arbeit speist; erst recht, wenn sie Selbstverwirklichung ebenso ermöglicht wie scheinbar die Selbstbestimmung über die Zeit und den Ort, an dem man ihr nachgeht.

Schutz vor Rundum-Belastung? Eine Ausnahme

Und wenn einer die Nachteile allmählich registriert, redet er nicht unbedingt darüber. Soll man etwa zugeben, dass einem die 23-Uhr-Videokonferenz, die Nacht der Arbeit, noch in den Knochen sitzt, eine Veranstaltung, die wahrlich kein Betthupferl war, und nun auf seine elf Stunden Ruhezeit bestehen - auf die Gefahr, künftig als einer zu gelten, der Dienst streng nach Arbeitszeitgesetz macht? Will man sich vom Arbeitsschutz-Fachmann der Firma sagen lassen, dass der Bürostuhl daheim zwar schick ausschaut, aber für Dauerbeanspruchung überhaupt nicht ausgelegt ist? Wo es doch jetzt so etwas Fortschrittliches gibt wie den "Vertrauensarbeitsplatz", den einem die Firma gewährt.

Nur die wenigsten Menschen sind erpicht auf Unterhaltungen, in denen sie sich peinlich vorkommen. Es gibt mittlerweile Firmen, die sich mit Gewerkschaften auf einen Schutz vor Rundum-Belastung ihrer Mitarbeiter geeinigt haben, VW und Evonik zum Beispiel; bei der Telekom laufen Gespräche. Diese Vereinbarungen sind die Ausnahme, nicht der Normalfall.

Der Unterschied zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist, dass viele der Ersteren ganz genau wissen, was sie Letzteren zumuten. Dass es eben nicht bekömmlich sein kann, wenn das Zuhause kein Rückzugsraum mehr, sondern eine Art Außenstelle der Firma ist. Nach einer Untersuchung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse steigt mit dem Zwang zur Erreichbarkeit das Risiko, an Depressionen zu erkranken.

"Wat willste maache!"

Wenn man mit Arbeitgebern über dies alles spricht, offenbaren manche von ihnen ihr Unbehagen über die Entwicklung schon anhand ihrer Wortwahl: unaufhaltsamer Trend, wollen wir Gewinner sein, ein Muss, unabdingbar, Möglichkeiten der Digitalisierung optimal nutzen - das sind typische Ausdrücke, die dann fallen. So redet ja niemand, der überzeugt wäre von der Harmlosigkeit dessen, was er seinen Beschäftigten abverlangt. So redet jemand, der durchaus Bewusstsein hat, sich aber einem Turm von Zwängen unterworfen sieht. "Wat willste maache!", sagt der Rheinländer. "Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein", das war die Feststellung von Karl Marx dazu, dem großen Diagnostiker. Wer den Kunden aus Amerika oder China nicht verlieren will, der stellt ihm um Himmels willen seine Leute zu den gewünschten Zeiten zur Verfügung.

Es ist wie so oft im Leben: Menschen geben den Anspruch auf, Herr über sich selbst zu sein. Statt dessen ergeben sie sich Verhältnissen, die niemand anders als doch sie geschaffen haben. "Die Zukunft der Arbeit bestimmen wir!" lautete das Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum 1. Mai. Man mag es für naiv halten, oder für trotzig. Aber es wäre selbst dann eine passable Parole, wenn sie nicht Gewerkschaftern, sondern einem Unternehmer eingefallen wäre.

Denn so fängt doch jede Debatte und jedes Handeln immer an: dass man sich wieder der Möglichkeiten besinnt, welche die erste Person Plural bietet - und endlich aufhört, sich dem zu beugen, was irgendein Zeitgeist unaufhaltsam nennt.

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