Digitalisierung:Gratisarbeit? Gerne!

Lesezeit: 3 Min.

Der technische Fortschritt, der uns eigentlich Arbeit abnehmen und Zeit schenken sollte, hat uns zusätzliche Dienste aufgebrummt, wie beim Self-Check-in. (Foto: Chris Ratcliffe/Bloomberg)

Dienstreisen buchen, Möbel aufbauen, Pakete abholen, Bankgeschäfte erledigen: Warum wir bereitwillig immer mehr unbezahlte Jobs übernehmen und es noch nicht einmal merken.

Von Viola Schenz

Wie gut er die Menschen durchschaut, hat Mark Twain immer wieder bewiesen, auch im Roman "Die Abenteuer des Tom Sawyer". Tom wird zum Weißeln des Gartenzauns verdonnert, an einem heißen Samstagnachmittag. Widerwillig legt er los. Die Nachbarskinder sind auf dem Weg zum Baden und machen sich über seine Strafarbeit lustig. Da dreht Tom den Spieß um. Er erklärt ihnen, was für ein Privileg das Zaunstreichen ist, wie viel Verantwortung und Kunstfertigkeit darin stecken. Am Ende weißeln die Nachbarskindern den Zaun, einige geben ihm dafür sogar Geld, und Tom schreitet zufrieden zum See. Er hat erreicht, was er wollte, indem er "Arbeit" neu definierte: Weißeln ist keine Pflicht mehr, sondern eine Spaßaktion. Aus Arbeiten macht er Spielen, also genau das, was die Kinder im Sinn hatten.

"Tom Sawyer" ist 1876 erschienen, und man könnte meinen, Twain habe mit diesem Psychogramm dem folgenden Jahrhundert vorgegriffen. Eigentlich nehmen uns heute ja Maschinen und Computer lästige, unangenehme, zeitraubende Arbeit ab - aber wir nehmen sie gleichzeitig wieder auf uns, willig und unentgeltlich. Wir halsen uns Aufgaben auf, oft unbewusst, die bisher andere erledigt haben - Konzerne, Dienstleister, Behörden.

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Den Tankwart etwa gibt es heute nur noch als Kassierer in seinem Tankstellenbüro. Früher hat er tatsächlich Benzin in den Tank gefüllt, auch den Ölstand geprüft und die Windschutzscheibe geputzt. Bis jemand die automatische Zapfsäule erfand, seitdem machen wir das. Oder den Gemüsehändler, der fungiert auch nur noch als Kassierer. Irgendwann in den Achtzigerjahren kam jemand auf die Idee, Waagen zwischen Äpfel und Tomaten zu stellen und Schilder aufzuhängen mit der Aufschrift: "Bedienen Sie sich selbst, keiner bedient Sie besser!" Prompt taten das die Leute, inklusive abwiegen und auszeichnen.

Sie hatten sich bereits daran gewöhnt, ihre Ikea-Möbel selbst heimzuschleppen und zusammenzuschrauben. So geht das weiter: Kellner brachten das Lunch und räumten den Tisch ab, inzwischen gibt es Systemgastronomie: Man stellt sich das Essen selber zusammen und das Tablett brav zurück aufs Fließband. Ein Bote brachte das Päckchen, heute holt man es sich bei der Packstation. Der Bankangestellte füllte das Überweisungsformular aus, der Lufthansa-Mitarbeiter checkte einen ein, heute macht man das alles selbst. Und irgendwann werden wir unsere Einkäufe selbst scannen und kassieren, weil immer mehr Supermärkte genau das einführen. Ebenso Hotels, wo man inzwischen per Code ein- und auscheckt.

Ein Credo, das die Digitalisierung hervorgebracht hat, lautet: Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, bist du das Produkt. Soll heißen: Dienstleister und Web-Anbieter holen sich die Ausgaben für ihre Dienste durch die Hintertür rein. Facebook kostet nichts, aber wir bezahlen für die freiwillige Preisgabe kostbarer, persönlicher Daten. Das Pauschalangebot des Reiseveranstalters wahrzunehmen, ist unentgeltlich - außer, dass wir die ganze Buchungsarbeit daheim am Computer übernehmen.

"Shadow Work", Schattenarbeit, nennt der Harvard-Soziologe und Journalist Craig Lambert dieses Phänomen in seinem gleichnamigen Buch, das soeben auf Deutsch erschienen ist ("Zeitfresser: Wie uns die Industrie zu ihren Sklaven macht", Redline Verlag). Was aufgrund all dieser Extra-Aufgaben, die sich über den Tag summieren, auf der Strecke bleibt, ist natürlich Zeit.

Die halbe Stunde, die wir einsparen, weil sich Unterlagen blitzschnell als Mail-Anhang verschicken oder Sachverhalte recherchieren lassen, geht dafür drauf, dass wir mit demselben Computer das passende Bahnticket für die bevorstehende Dienstreise suchen und buchen. Bis dann noch die Banküberweisungen, die Web-Einkäufe und -Bewertungen erledigt sind, zieht sich die Arbeit bis in den Abend, obwohl doch eigentlich um 17 Uhr Büroschluss war. Technischer Fortschritt, der uns eigentlich Arbeit abnehmen und Zeit schenken sollte, hat uns zusätzliche Stunden aufgebrummt.

Aber vielleicht sind wir an dieser Entwicklung nicht unschuldig. Vielleicht wollen wir es gar nicht anders. Vielleicht fürchten sich viele unbewusst vor Freizeit. In manchen Firmen herrscht das Last-man-standing-Prinzip: Wer abends am längsten bleibt, beweist, dass er am härtesten arbeitet - egal, was er oder sie da eigentlich am Computer treibt. Wer viel in Eile und dauernd beschäftigt ist, beweist die eigene Wichtigkeit. Da kommen zeitraubende Extra-Aufgaben, die sich ins Leben schleichen, durchaus zupass.

"Wer darauf Wert legt, von seinen Mitmenschen als erfolgreich wahrgenommen und bewundert zu werden, muss einen übervollen Terminkalender vorweisen, akuten Zeitmangel demonstrieren und diesen zugleich beklagen", schreiben Karlheinz Geißler und Jonas Geißler in ihrem Buch "Time is honey - Vom klugen Umgang mit der Zeit". Der Kommunikationskiller "Ich habe keine Zeit" fungiere als "Türöffner für die Suiten der Erfolgreichen, der Angesehenen und der Bewunderten".

Zu Kommunikationskillern macht die Schattenarbeit in der Tat. Die menschlichen Kontakte reduzieren sich. Wo kein Schalterbeamter, kein Supermarktkassierer, kein Reisebüromitarbeiter, da kein Plausch, kein Ideenaustausch, keine spontanen Tipps. Stattdessen: Strafarbeiten.

© SZ vom 14.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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