Süddeutsche Zeitung

Die Patchworker:Stoff für großes Kino

Von der Kunstpädagogin zur Entwicklungshelferin und Unternehmerin.

Von Christine Demmer

Iris Becker hat in ihren 47 Lebensjahren so viel erlebt, dass es glatt für dreieinhalb Normalbiografien reichen könnte. Selbst die gezippte Fassung wirkt opulent wie ein indischer Spielfilm. Inklusive großer Gefühle. Ganz großes Kino.

Erste Szene: Abitur, bestanden an einem Frankfurter Gymnasium und gefeiert in einer Apfelweinkneipe. Beim Ebbelwoi Leute aus Wien kennen gelernt, die sie an die Donau einladen. Aus den geplanten zehn Tagen werden Wochen, der Liebe wegen, und dann ein Jahr Lehramtstudium, Sport und Romanistik. "Mein Berufsziel war damals Sport mit Behinderten, vor allem mit Querschnittsgelähmten", sagt Iris Becker.

Allein, die Liebe schwindet, Wien verliert seinen Glanz, und in Gießen lässt es sich auch gut studieren. Nach einem schweren Skiunfall bricht sie das Sportstudium ab und steigt auf Kunst und Soziologie um. "Immer, wenn ich den Sprung ins Ungewisse gewagt habe, ist etwas Spannendes daraus geworden. Und es war immer mehr als weniger."

Während des Urlaubs in Griechenland machte ihr ein Schweizer Zivilisationsflüchtling Lust auf mehr. "Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf." Sie beschloss, das Studium hinzuwerfen und nach Kreta zu gehen. "Wir bauten Tomaten an. Nachmittags saß ich mit den Frauen aus Kali Limenes zusammen, wir häkelten meterlange Spitzen aus feinstem weißen Nähgarn, ich hatte mein Wörterbuch neben mir und lernte Griechisch."

Nach ein paar Monaten fällt Iris Becker auf, dass der Briefträger nur einmal in der Woche kommt. Nicht immer ist Post aus der Heimat dabei. Die Arbeit auf dem Feld ist ungewohnt und hart, und dann gerät auch noch der Tomatenabsatz ins Stocken. Voller Eindrücke, Erfahrungen und mit neuer Wertschätzung für das Studentenleben fährt sie zurück nach Deutschland und macht das erste Staatsexamen. Weicher Schnitt.

Willkommener Springer

Auf das Referendariat hat sie jetzt aber keine Lust mehr. Sie zieht nach Frankfurt und studiert Kunstpädagogik. Das Zweitstudium muss sie selbst finanzieren, also jobbt sie für eine Zeitarbeitsfirma als Sekretärin, Sachbearbeitern und Bürohilfe. Da kommt sie in vielen Unternehmen herum, auch bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Eschborn. Die GTZ führt im Bundesauftrag Projekte in Entwicklungsländern durch. Rasch wird die Studentin dort zum willkommenen Springer und arbeitet sich vom Besucherdienst über die Abteilungen Gesundheit und Wasserbau bis zur Personalabteilung vor.

Gleich nach der Magister-Prüfung bietet die GTZ ihr nacheinander ein Gesundheitsprojekt in Mauretanien an, eine ausbaufähige Sekretariatsstelle in der Zentrale, ein Frauenprojekt in Indien und, wieder in Eschborn, die Nachwuchsförderung. Jedesmal sagt Becker begeistert zu, erledigt den Job, fragt nach Neuem. Als nächstes steht der Aufbau eines Servicebüros in Malawi auf dem Plan...

...da erfährt die 32-Jährige, dass sie Krebs hat. "Plötzlich war ich mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert. Da rückt das Karrieremachen, die Anstrengung und der hierfür bezahlte Preis in Perspektive." Nur noch Halbtagsarbeit, OP, Rehabilitation - "ein sehr hilfreicher und intensiver Prozess". Nach der Genesung arbeitet sie freiberuflich für die GTZ weiter, alles in allem zehn Jahre lang. "Ich beendete das Kapitel in aller Dankbarkeit für die Begegnung mit interessanten, idealistischen, realistischen Menschen. Es war eine großartige Zeit."

Der Härtetest

Jetzt ein harter Schnitt, und dann Totale Becker. Zusammen mit einer neuen Liebe zieht sie nach Freiburg im Breisgau und beginnt ihr zweites Leben. Schnell findet sich eine Stelle im Sekretariat eines Software-Unternehmens, eine Schlüsselposition. Sie wird unentbehrlich, durchläuft diverse Firmenbereiche, erarbeitet sich binnen kurzer Zeit die Prokura. Wie Jahre zuvor bei der GTZ schickt man sie auch hier ins Ausland, Becker soll eine Niederlassung in England aufbauen. "Da wurde mir doch ein bisschen mulmig. Aber es war eine Herausforderung, und ich nahm sie an." Zweieinhalb Jahre bleibt sie in London, besteht ihren Härtetest. "Danach wusste ich, dass ich, egal in welchem Land dieser Welt, meine Frau stehe. Das gab mir den Mut, mich selbstständig zu machen."

Denn nun strebt Iris Becker nach Unabhängigkeit von der Mutterfirma, nach ein wenig mehr Freizeit und Entspannung. Sie fliegt nach Indien, bleibt ein paar Monate und lernt den Geschäftsführer eines deutsch-indischen Software-Hauses kennen. Es ist die Zeit des Internet-Hypes, die Börsen boomen und der Bundeskanzler lockt Inder mit der Green Card nach Deutschland. Dabei sprießen in Indien die Programmierfabriken wie Pilze aus dem Boden, die halbe Welt lässt auf dem Subkontinent entwickeln.

Gemeinsam mit dem indischen Firmenchef tüftelt Iris Becker den Plan aus, eine neue Geschäftsidee in Deutschland zu vermarkten. "Ich war mir sicher, dass ich so schnell keine Personalverantwortung mehr tragen mochte und außerdem führungsresistent geworden war", sagt sie. "Aber mir gefiel die Idee, ein eigenes Business aufzubauen." Für den Vertrieb braucht sie nicht viel: Telefon, Visitenkarten, Computer, Internetanschluss.

Fünf verschiedene Baustellen

2000 legt sie los, nach drei Monaten hat sie ihren ersten Kunden an der Angel, am Ende des Jahres 2001 ist eine halbe Million Mark Umsatz im Sack. Dann macht es "pffft", und die Internetblase platzt. Niemand will Software, niemand will Inder, jeder geht auf Tauchstation. Iris Becker: "Ich rief in einem Jahr 2600 Firmen an, generierte aber keinen einzigen Kunden." Kamera aus, Schnitt.

Man ahnt: Jetzt kommt der Showdown. Zahlungsunfähige Kunden. Acht Monate ohne Einkommen. Schlaflose Nächte. Die Insolvenz vor Augen. Das Gefühl, versagt zu haben. Der Gedanke: Ich schaff' es nicht, ich mach' was falsch, ich bin nicht gut genug. Dann begreift Iris Becker: Es geht gar nicht um eine Niederlage, es geht um einen erneuten Wechsel. Und das kann sie doch! "In dem Moment, als mir das durch den Kopf ging, schlug ich die Zeitung auf und sichtete die Stellenanzeigen. Nach 14 Tagen hatte ich drei Jobangebote." Iris Becker entscheidet sich dafür, für den Bereich Gehirnforschung an der Uni Freiburg Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu machen.

Das macht sie heute noch. Nebenbei arbeitet sie für eine Personalagentur und vermittelt IT-Experten. Daneben hat sie sich wieder ein eigenes Unternehmen namens "let's bridge IT" (www.lets-bridgeit.com) zugelegt und berät Firmen, die ihre Softwareentwicklung nach Indien auslagern wollen. "Im Moment habe ich fünf verschiedene Baustellen, die alle kontinuierliche Aufmerksamkeit benötigen. Es ist eine Frage der Organisation, der Prioritätensetzung und der Begeisterung für Multitasking." Was ein richtiger Kassenknüller werden will, braucht nicht nur einen guten Regisseur. Oft entscheidet der gelungene Schnitt.

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Quelle:
SZ vom 5.6.2004
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