Die Opern-Ärzte:Das oberste Organ

Opernsänger sind Hochleistungssportler: In Wien ist die Praxis für die Formel-1-Stimmbänder. Ein Besuch bei Dr. Kürsten, Vater und Sohn.

Helmut Schödel

Am Anfang schien es ein eher unangenehmer Auftrag zu sein: Besuchen Sie mal Dr. Kürsten! Er gilt in Wien als Prominentenarzt, der als Spezialist für Hals, Nasen und Ohren nicht nur die drei Tenöre behandelt hat, sondern die gesamte Crème de la Crème der Opernstars. Ein Repräsentant der Wiener Society, dürfte man vermuten, weil selbst jeder Adabei, der den Namen hört, sich gleich als Kenner der Kürstens ausgibt. Der hat den Carreras behandelt und früher den Fritz Wunderlich, die Rysanek und natürlich auch den Pavarotti. Sehr vermutlich ein HNO-Fachmann mit einer goldenen Nase, die er sich mit seiner reichen Klientel verdient hat.

Pavarotti

Tenor-Legende Pavarotti: Patient von Dr. Kürsten.

(Foto: Foto: ddp)

Die Praxis liegt einen Steinwurf weit von der Staatsoper entfernt, beste Lage. Ich hatte mir einen Behandlungstermin verschafft für einen Hörtest. Herr Dr.Kürsten fand mein Hörvermögen suboptimal, aber für eine Behandlung sah er noch keine Notwendigkeit. Er war freundlich und nahm sich Zeit, obwohl ich ja weder berühmt bin noch singen kann. Jedenfalls erwartete ich mir eine geschmalzene Rechnung. Es waren dann inklusive des eingehenden Gesprächs 60 Euro. Merkwürdig, diese Anständigkeit, dieser Mangel an Geschäftssinn. Außerdem war dieser Dr. Kürsten noch ziemlich jung für so viel Ruhm. Es stellte sich heraus, es war Dr. Reinhard Kürsten, der Sohn. Der Vater Dr. Heinz Kürsten hat ihm die Praxis inzwischen übergeben.

Eigentlich hätte der junge Kürsten Journalist werden wollen, genau genommen Chefredakteur. Dazu müsse er zunächst einmal studieren, hatte man ihm gesagt, irgendetwas, und er entschied sich für Medizin. "Nicht um der Menschheit helfen zu können, sondern um zu wissen, wie der Mensch funktioniert." Die Praxis seines Vaters wollte er zuerst nicht übernehmen, weil er in der Panigelgasse, nicht allzu weit von der Oper, mit Bruder und Schwester in einer 240 Quadratmeter großen Wohnung aufgewachsen war, in der sich zugleich die Ordination befand, zwischen Wohnbereich, Küche, Bad und WC. Er musste sich ständig an den berühmten Patienten vorbeimogeln, die ihn nach dem Motto "Ah, ganz der Vater" nervten. Sein Elternhaus war eine HNO-Praxis.

Er wurde dann doch der nächste Kürsten, der Sohn des Vaters, der Großneffe des Großonkels, ebenfalls ein HNO-Arzt, der als Student Chef de Claque in der Wiener Oper war und in zweiter Ehe mit einer Sängerin verheiratet, Emmy Loose-Kriso, die auch in der Staatsoper gesungen hat. Die Kürstens - das sind die Buddenbrooks der HNO-Branche in Wien, zuständig für die Stimmbänder der Welt.

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Das oberste Organ

Könnte man denken, Weltstars am laufenden Meter zu behandeln, sei etwas für ganz starke Nerven. "Im Gegenteil, das sind keine Hysteriker", erklärt Kürsten. "Das sind Profis. Ab einem bestimmten Leistungsniveau muss man doch auch psychisch stabil sein, sonst kann man das nicht schaffen."

Im Grunde ist dieser Dr. Kürsten durchaus vergleichbar dem Vereinsarzt vom FC Bayern München. Ein Sportarzt, in seinem Fall für die Formel1 der Sänger. Da geht es um Perfektion, um absolute Grenzbereiche, bei den Ferraris wie bei den Pavarottis. 300PS oder gar nichts, sonst fährt man hinterher. Eine Winzigkeit unter dem Bestmöglichen, und man singt in der Weltklasse nicht mehr mit. Singen funktioniert eben nur hundertprozentig.

"Für mich sind Sänger und Schauspieler die letzten Sklaven unserer Hochkultur, sie tun mir leid. Sie müssen ständig an ihre Grenzen gehen, werden oft unvernünftig belastet, bis das Stimmorgan - denn es ist biologisches Material - einfach ermüdet. Wenn sie nicht spitze sind, schuften die Sänger für einen Bettel, und zig andere warten schon auf ihre Chance." Kürsten steht auf der Seite der Künstler, nicht der Intendanten, und rät, wenn er eine Gefährdung erkennt, zur Absage des Auftritts. Es geht ihm um die an der Spitze und nicht um die schnelle Spritze.

Und dann das! In der Zeit unserer Gespräche hatte in der Wiener Staatsoper Wagners "Walküre" Premiere. Der Wotan (Juha Uusitalo) erschien bei Kürsten, weil er sich nicht wohlfühlte. Kürsten hat ihn untersucht und konnte nichts erkennen. Er wollte Juha Uusitalo auch nicht sinnlos beunruhigen, weil er wusste, dass die Oper keinen Ersatz engagiert hatte. Dann versagte in einer mit großem Brimborium angekündigten Veranstaltung schon im zweiten Akt der "Walküre" Wotans Stimme. Der Opernskandal schlechthin. Kürsten hatte sich schon "aus einem Bauchgefühl", wie er sagt, seinen Arztkoffer mit nach Hause genommen, falls die Oper anruft. Sie rief, er kam, und es war zu spät. Man suchte nach Schuldigen, da kam natürlich Dr.Kürsten in Frage. Am nächsten Tag konnte er einen Infekt diagnostizieren, obwohl am Abend zuvor nichts zu sehen war. "Ich bin kein Zauberer und kein Hellseher", sagt er. "Shit happens, so ist das Leben."

Er war gerade von einem Seminar über das "Wesentliche im Leben" von einem Benediktinerkloster in der Nähe von Würzburg nach Wien zurückgekehrt. Und was ist das Wesentliche? "Familie. Wirklich gute Freunde und ein spirituelles Bewusstsein", sagt Kürsten. "Geld war nie mein Thema. Ich brauche nicht viel davon, fahre einen VW Passat, habe keinen Landsitz in der Toskana, und kein Nobelitaliener ist mein zweites Wohnzimmer." Man sei doch als Arzt immer mit der Tatsache konfrontiert, dass es bald aus sein könnte. Das bestimme das Bewusstsein.

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Das oberste Organ

Auch Kürsten senior ist wie der Sohn ein Mann von großer Klarheit, ein Leistungsethiker mit dezidierten Wertvorstellungen. Ich würde mich täuschen, sagt er, wenn ich glaubte, sein Leben sei ein Anekdotenreservoir. Hinter der Bühne gehe es eben anders zu als auf der Bühne. Weniger spektakulär. Er habe bis in die Nacht hinein gearbeitet, kaum Privatleben gehabt und traurige Erfahrungen machen müssen.

Der Ettore Bastianini habe bei ihm zu Hause manchmal Spaghetti gekocht, seine Freundin mitgebracht. "Eines Tages sagt er: Ich habe immer so Nasenbluten. Er hatte dann eine weiße Stelle im Rachen und litt an einem aggressiven Tumor. Nach einer Vorstellung musste ich ihm sagen, dass er nicht mehr weitersingen kann. Dann war der Carreras bei uns, klagte über ständiges Zahnfleischbluten. Es folgte die Leukämiediagnose." So habe es ausgesehen, sein sogenanntes Prominentenarztleben. "Schauen Sie sich die letzte Frau von Pavarotti an! Was soll man da erzählen? A Niachterl und noch dazu humorlos."

Wir sitzen im Café "Tirolerhof", natürlich gleich bei der Oper, da klingelt Dr. Kürstens Handy. Es ist Teresa Berganza aus Spanien. "Sie kommt", sagt Kürsten. "Ich soll sie mir anschauen. Muss ich halt mit meinem Sohn reden. Sie ist jetzt schon um die 60 und singt noch immer und will unbedingt zu mir."

Die Kürstens stammen aus dem Sudetenland. Der Senior, Jahrgang 1928, wurde am Ende des Krieges noch eingezogen. "Wir wurden in die SS-Uniformen gesteckt, weil sie kaum noch Uniformen hatten, und sollten Brücken bewachen." Er blieb später bei seinem Onkel hängen, einem HNO-Arzt in Wien, und bekam, weil sein Dentist Beziehungen zur SPÖ hatte, die österreichische Staatsbürgerschaft, schlug sich durch, gering entlohnt oder mit niedrig dotierten Stipendien, und übernahm die Praxis des Onkels, der bereits Kontakte zu Sängern und Schauspielern hatte. "Ich kannte die Oper vom Stehplatz aus", sagt er. "Dann kamen die Stars. Der Chor kam erst später. Die wollten erst wissen, wie ich bin. Aber es war nie mein Ziel, ein Sängerarzt zu werden."

Heinz Kürstens Eltern verbrachten ihre Pensionszeit in Freilassing, also gleich bei Salzburg. Er selber zog sich im Sommer mit Frau und Kindern ebenfalls dorthin zurück. Als die Sänger davon erfuhren, verbrachte er auch im Urlaub seine Abende hinter den Bühnen. Besonders bei heiklen Veranstaltungen, die manche Sänger nervös machten, baten sie um die beruhigende Anwesenheit von Dr. Kürsten. Nicht umsonst ist das Wartezimmer der Wiener Praxis tapeziert mit Danksagungen der Weltstars. Einen "Kehlen- und Seelentröster" nennt ihn Fritz Wunderlich, und das war er wohl auch.

Jetzt lebt der Senior mit seiner Frau in einer Mietswohnung in Wien-Hietzing, und das kleine Haus auf dem Land gehört seinen drei Kindern. Die Kammersängerin Ludwig habe immer zu ihm gesagt: "Du musst mehr verlangen, wenn auch nicht von mir. Du bist kein Geschäftsmann." Aber das scheint ihn bis heute nicht sonderlich zu belasten.

Er setzt dann noch einmal an, vielleicht um mir etwas zu bieten: "Ich war mit den drei Tenören bei der Fußball-WM 1995 in Los Angeles. Wir wurden von der Polizei zum Schauplatz eskortiert." Aber dann gibt er mir zu verstehen: Ist eigentlich auch keine Geschichte, war harte Arbeit. "Ich hatte wenig Privatleben."

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Das oberste Organ

Und die Netrebko? "Ich weiß nicht, wie lange sie singen wird", sagt Kürsten voller Zweifel. "Singt nicht schlecht, aber es gibt genauso Gute, die schon in den Startlöchern scharren." Die neue Showwelt fordere eben ihren Tribut. Partys seien in Ordnung, wenn man allerdings darüber die Disziplin nicht vergisst. Ein anständiges Leben sei nun mal eine Voraussetzung für die Kunst.

Was heute fehle, sei der Teamgeist, das Ensemble. Das Publikum kenne seine Sänger gar nicht mehr, sie werden einfach ein- und ausgeflogen. Einmal habe er erlebt, wie man einen Sänger aus Moskau holte. Er war gerade angekommen, als schon bald der Vorhang hochging. Eine Assistentin schob ihn auf die Bühne und erklärte ihm, wo er wieder abgehen musste. Dazwischen hat er gesungen. Es mangelt an Solidität. Es fehle auch an guten Lehrern, klagt Kürsten. Aus dem Wiener Konservatorium kommen doch schon längst keine großen Sänger mehr! Die kommen aus dem Ausland, sind meistens noch unfertig und werden verheizt. Und die Schauspielregisseure, die über Opern herfallen, hätten auch mehr geschadet als genutzt. Bei den Salzburger Festspielen habe er auf der Pernerinsel einen Molière-Abend gesehen: "Da hat sich ein Schauspieler ausgezogen und onaniert. Also, bitte, das geht nicht." "Natürlich gibt es famose Konstitutionen, die diese Jetsetkultur aushalten", sagt Kürsten senior. Domingo sei immer absolut robust gewesen, auch der Rydl, der Megabass, der in seinem Buch den Kürstens ein Kapitel gewidmet hat.

Jetzt geht Kürsten nur noch selten in die Oper. Beim Nachmittagskaffee hört er klassische Musik, sein Sohn arbeitet in der Praxis, operiert vormittags in einer Wiener Klinik und ist auch abends auf Anrufe gefasst. Der Senior agiert als Opa, und in der Hietzinger Wohnung vergeht, wie es scheint, der Ruhm der Welt.

Welcher Ruhm? Die ruhmreiche Kultur der Idealisten, des Miteinanders, der Bescheidenheit. Den Kürstens ist das alles noch bekannt. Und das Schöne ist, auch sie sind Wiener Gesellschaft. Den schrillen Rest zeigen die Kameras.

Das Kapitel über Dr. Heinz Kürsten und Dr. Reinhard Kürsten findet sich in dem unlängst erschienenen Fotoband "Der MegaBass Kurt Rydl" von Oliver Spiecker und Mathias Bothor (Christian Brandstätter Verlag, Wien).

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