Beginnen wir mit einem Extrembeispiel, der Bundeskanzlerin. Angela Merkels 26. Kalenderwoche (die vorige) war wieder mal ein Konvolut aus Krisengipfeln, Regierungserklärungen, Flügen, Sitzungen bis in den frühen Morgen, eine Sieben-Tage-Woche auf der Basis permanenter Bereitschaft und Erreichbarkeit. Es ist ein Höllenjob, doch Merkel hat ihn haben wollen, und sie macht nicht den Eindruck, ihre Entscheidung zu bereuen. Dafür verzichtet sie auf Kinder, Freizeit, überhaupt auf fast alles, was nicht Regieren ist. Würde die Kanzlerin Merkel sagen, dass sie alles hat? Gewiss nicht.
Ziehen wir nun ein paar Lebensjahre ab und addieren zwei Kinder hinzu. Wenn Merkel auch Zeit mit ihrer Familie verbringen wollte, könnte sie ihren Job als Kanzlerin nicht mehr machen, jedenfalls nicht richtig. Würde die Mutter Merkel sagen, dass sie alles hat? Kaum.
So ist das Leben, in dem ein Tag 24 Stunden hat: Eine Stunde mehr auf der einen Baustelle bedeutet eine Stunde weniger auf der anderen. Dass keiner alles haben kann - ist das weiter verwunderlich? Offenbar schon.
"Das kannst du nicht schreiben - ausgerechnet du!"
" Why women still can't have it all" heißt die Titelgeschichte, die kürzlich im US-Magazin The Atlantic erschienen ist. Die Amerikanerin Anne-Marie Slaughter, 53, beschreibt darin, wie sie das Undenkbare tat und ihren Spitzenjob in Washington hinwarf, um mehr Zeit mit ihren beiden Söhnen verbringen zu können. Es geht kurz gesagt um die prekäre Work-Life-Balance berufstätiger Mütter, und bevor man gleich den Finger auf die Schwachstellen legen wird, sollte man fairerweise einräumen: Vieles von dem, was da steht, ist gut.
Anne-Marie Slaughter war von 2009 bis 2011 Chefin des Planungsstabes von Außenministerin Hillary Clinton im State Department. Sie war die erste Frau in dieser Position. An Werktagen arbeitete sie in Washington, ihr Mann kümmerte sich in Princeton um die Söhne. Der Essay beginnt mit dem Schlüsselmoment: An einem Mittwochabend befindet sich Slaughter auf einem Empfang von Barack und Michelle Obama. Sie trinkt Champagner, plaudert mit Ministern aus aller Welt, sie ist ganz oben angekommen. Slaughter aber kann nicht aufhören, an ihren 14-jährigen Sohn zu denken, der zu Hause seine Schulaufgaben nicht macht. Der, wenn sie am Wochenende daheim ist, kaum noch mit ihr spricht. An diesem Abend vertraut sie einer Kollegin an: "Wenn dies hier vorbei ist, schreibe ich ein Meinungsstück mit dem Titel ,Frauen können nicht alles haben'." Die Kollegin reagiert entsetzt: "Das kannst du nicht schreiben - ausgerechnet du!"
Jetzt ist das Stück in der Welt, aus hiesiger Sicht erinnert sein Duktus ein wenig an Thilo Sarrazin und Günter Grass. Es ist die Pose des aufopferungsvoll gebrochenen Tabus: Ich weiß, es ist verboten, das zu sagen, aber irgendjemand muss es tun, also übernehme ich das mal. Slaughter gehört zu einer Generation von Frauen, die fest daran geglaubt haben, dass sie Kinder haben und es trotzdem nach ganz oben schaffen können. Nun stellt sie richtig: 1A-Frauen, die auch für die Familie da sein wollen, müssen sich mit 1B-Jobs zufriedengeben. Die Reaktionen sind so heftig wie vorhersehbar - die Feministinnen jaulen, die Soccer Moms jubeln, und die jungen Frauen seufzen erleichtert auf. Keine Frage, dass die Autorin einen Nerv getroffen hat: Mehr als eine Million Menschen haben ihr Manifest bereits angeklickt. In den USA ist eine neue Feminismus-Debatte ausgebrochen, die in dieser Woche auch nach Deutschland geschwappt ist.
Einlassungen zum Komplex Kind-und-Karriere führen frustrierend oft dazu, dass sich Frauen gegenseitig an die Gurgel gehen und das Thema in der Weiberecke steckenbleibt. Warum das so ist, lässt sich anhand von Slaughters Essay und der Kontroverse darüber exemplarisch vorführen. Drei Anmerkungen.
Das ist so banal, dass man sich den Satz fast nicht hinzuschreiben traut. Und doch argumentieren Frauen immer wieder so, ob in der Öffentlichkeit oder untereinander: Wenn ich Kinder und Karriere unter einen Hut bekommen habe, dann könnt ihr das auch (um mal ordentlich Druck aufzubauen). Slaughter sagt im Prinzip das Gleiche, nur anders herum: Wenn ich es nicht geschafft habe, dann ist es nicht zu schaffen. Das ist pure Arroganz.
Man kann mühelos nachvollziehen, warum sie diesen Job am Ende nicht mehr machen wollte. Montagmorgens um halb fünf aus dem Bett springen, um 5.30 Uhr den Zug nach Washington nehmen, aberwitzige Arbeitszeiten unter maximalem Druck bis Freitagabend, mit dem letzten Zug zurück nach Princeton, wo die Beziehung zu den Kinder langsam verkümmert - wie viele Menschen wollen so leben? Doch es gibt Ausnahmen.
Slaughter nennt sie sogar selbst: Frauen wie Susan Rice, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Oder Samantha Power, Autorin und Pulitzerpreisträgerin. Oder Sheryl Sandberg, Geschäftsführerin bei Facebook. Slaughter macht es sich einfach und schiebt sie ins Märchenland der "Superwomen" ab: unfassbar privilegiert, übermenschlich brillant. "Diese Frauen können nicht der Standard sein, an dem sich talentierte Frauen messen müssen."
Nun hat aber auch nicht jede talentierte Frau das Potenzial und den Wunsch, dorthin zu kommen, wo Sheryl Sandberg heute ist. Womit man beim nächsten Punkt angelangt wäre.
Slaughter lässt keinen Zweifel daran, um welche Zielgruppe es ihr geht. Es sind Mütter in Top Jobs, die sehr viel Verantwortung tragen, sehr viel reisen und sehr lange arbeiten müssen. Ihren eigenen Top Job im State Department hat sie keinesfalls aufgegeben, um fortan Marshmallows zu rösten und ihre Söhne ganztägig zum Baseball zu fahren. Sie arbeitet wieder als Professorin an der Ivy-League-Universität Princeton. Sie hat immer noch eine Karriere, aber eine kleinere, die ihr Zeit für die Familie lässt. Draußen ist das natürlich vielfach anders angekommen, nämlich grundsätzlich: Kind und Karriere, das geht nicht. Was für ein Unsinn, als ob es "die" Karriere überhaupt gäbe. Zwischen Washington und Princeton, zwischen der Bundeskanzlerin und der Unterabteilungsleiterin im Ministerium sind viele Erfolgsgeschichten möglich; sie lassen sich nur unterschiedlich gut mit Kindern kombinieren.
Dass sich Anne-Marie Slaughter nach ihrem Essay den Vorwurf gefallen lassen muss, "die Sache der Frauen" verraten zu haben, gehört ins Reich der feministischen Burleske. Wie viel Zeit man dem Familienleben einerseits und dem Berufsleben andererseits einräumen will (so man überhaupt die Wahl hat), ist eine Frage der persönlichen Prioritäten und des Nervenkostüms. Es ist absolut denkbar, dass eine einfache Angestellte mit Halbtagsjob das Gefühl hat, ihrem Kind nicht gerecht zu werden. Es ist ebenso denkbar, dass eine Führungsfrau, die ihr Kind nur am Wochenende sieht, mit diesem Arrangement zurechtkommt. Vielen Männern gelingt das ja auch - was nicht heißen muss, dass sie es auch gut finden. Und da sind wir beim dritten Punkt.
Das ist das Ärgerlichste an Slaughters Ausführungen: Sie blickt fast ausschließlich durch die Frauenbrille auf ein Problem, das Väter ganz genauso betrifft, oder jedenfalls betreffen sollte. Auch ihre bedenkenswerten Vorschläge zur Reform des Arbeitslebens ( flexiblere Arbeitszeiten, mehr Home Office, keine Termine nach Schulschluss) zielen bei ihr in erster Linie darauf ab, arbeitenden Müttern das Leben leichter zu machen. Das ist grotesk, zumal ihr eigener Ehemann - ebenfalls Professor in Princeton - zwei Jahre lang die Kinder betreut und Geld verdient hat.
Die rein weibliche Perspektive ist hier nicht nur falsch, sie ist fatal. Säßen die Mütter heute auf den Chefsesseln, wie sie sich das einmal vorgenommen hatten, könnten sie die Arbeitsbedingungen von dort aus ändern. Das ist aber leider die Ausnahme geblieben, darum müssen sich vorerst Männer der Sache annehmen. Die wiederum werden die Vereinbarkeit von Leben und Beruf erst dann auf die Agenda setzen, wenn das Thema nicht länger als Nischenproblem kommuniziert, sondern als gesellschaftliches Anliegen wahrgenommen wird - als Anliegen von Müttern, Vätern und allen anderen Arbeitenden auch.