Debatte um "Burn-out":Land mit Phantomschmerzen

Arbeiten bis zum Umfallen, bis zum "Burn-out": Der Druck im Job ist zweifellos gestiegen, eine Folge von Globalisierung und Digitalisierung. Doch Zahlen alleine helfen beim Mythos "Burn-out" nicht weiter. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs ist gefährlich.

Ein Kommentar von Sibylle Haas

Gleich vorweg: An dieser Stelle wird es kein Plädoyer für mehr Ausbeutung im Arbeitsleben geben. Auch sollen psychische Erkrankungen nicht kleingeredet werden. Doch es ist Zeit, dem Mythos "Burn-out" durch Arbeit auf die Spur zu kommen. Denn seit Längerem verschärft sich der Eindruck, wir lebten in einer Republik psychisch Gestörter: Arbeiten - egal was und wie - mache krank, führe zwangsläufig dazu, seelisch beschädigt zu werden.

Dass Arbeit dem Leben eine Struktur und einen Sinn gibt, ist leider in der Klamottenkiste verschwunden. Auch, dass arbeitslose Menschen öfter unter Depressionen leiden als erwerbstätige, wird von selbst ernannten "Burn-out"-Gurus gerne unter den Teppich gekehrt.

Heute ist dagegen "trendy", wer arbeitet, und zwar bis zum Umfallen. Das öffentliche Bekenntnis einiger Prominenter, sie hätten unter einem "Burn-out" gelitten, hat sie selbst ins Rampenlicht und das Thema in die Mitte der Arbeitsgesellschaft gebracht. In manchen Runden drängt sich gar der Eindruck auf, wer noch immer keinen hatte, der leistet zu wenig, zu Deutsch: Der ist faul!

In Büros, in Kneipen, beim Arzt, sogar in der Kirche - überall begegnet man Leuten mit einem "Burn-out".

Worum geht es? Darum, dass die Ansprüche in den Industriegesellschaften steigen. Wir sollen die perfekten Eltern und Partner sein und dabei zugleich die Doppelbelastung aus Familie und Beruf mit Leichtigkeit bewältigen. Wir sollen die perfekten Kinder sein und unsere Eltern, wenn sie alt sind, mit Fürsorge betreuen. Wir wollen in der Freizeit nicht nur rumhängen, sondern kulturell und sportlich etwas tun. Den eigenen Kindern wollen wir den Start ins Leben erleichtern und feuern die Kleinsten schon an, der oder die Beste unter ihresgleichen zu werden.

Schicker als ein Bandscheibenvorfall

Natürlich funktioniert auch die Arbeitswelt nach diesem Schema. Warum sollte es in den Büros anders zugehen als auf dem Sportplatz oder in der Musikakademie? Die Arbeitswelt ist auf Wachstum und Effizienz getrimmt - darauf, dass kein Geld verschwendet, dass wirtschaftlich produziert wird. Dass der Druck durch Globalisierung und Digitalisierung gestiegen ist, hat sich kein Bösewicht ausgedacht. Es ist die Folge einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft. Ohne Zweifel ist die Arbeitsbelastung in den Unternehmen gestiegen. Denn die Arbeitswelt hat die Schwelle ins digitale Zeitalter überschritten und damit an Schnelligkeit zugelegt. Überstunden, Termindruck und das Bearbeiten mehrerer Aufgaben gleichzeitig gehören für viele Menschen zum Arbeitsalltag.

Doch, ganz ehrlich, macht das schon psychisch krank?

Zahlen alleine helfen nicht weiter. Jeder Zweite klagt über mehr Stress im Job; 53 Millionen Krankheitstage im Jahr wegen psychischer Störungen; jährliche Behandlungskosten von 30 Milliarden Euro; 41 Prozent Frühverrentungen wegen seelischer Leiden. Und schuld ist der Job? Tatsache ist, psychische Erkrankungen gab es schon vor 20 Jahren. Doch schrieben das die Ärzte damals nicht auf die Krankmeldung, sondern stattdessen stand da vielleicht "Rückenleiden". Das war gesellschaftlich akzeptiert. Heute ist das umgekehrt. Das Thema ist aus der Tabu-Zone gekommen. Einerseits, weil ein Erschöpfungssyndrom schicker ist als ein Bandscheibenvorfall. Und andererseits, weil inzwischen ein Psycho- und Wellness-Markt entstanden ist, der seine "Kunden" braucht.

Es ist verführerisch, der Arbeit oder dem Chef die Schuld zu geben. Es ist im Übrigen auch der einfachere Weg. Weil man sich dadurch selbst der Verantwortung entziehen kann. Doch es ist möglich, selbst Grenzen zu ziehen: Jeder kann das Mobiltelefon nach Feierabend ausschalten oder E-Mails erst am nächsten Tag beantworten - oder eben auch nicht. Mündige Arbeitnehmer sollten in der Lage sein, dies selbst zu entscheiden.

Ein Anti-Stress-Gesetz, wie von der Arbeitsministerin immer mal wieder ins Gespräch gebracht, braucht es nicht. Es gibt ein Arbeitszeitgesetz und Vorschriften zum Arbeitsschutz. Das reicht. Wer sich in seinem Beruf überfordert fühlt, hat nicht gleich eine psychische Störung, sondern vielleicht den falschen Job. Nicht jede Befindlichkeitsstörung muss von einem Facharzt behandelt werden. Manchmal hilft schon ein Gespräch mit einem guten Freund. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs "Burn-out" ist gefährlich, weil er "echte" Erkrankungen verharmlost. Die können nämlich entstehen, wenn der emotionale Druck in der Arbeit und im Privatleben zu groß wird.

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