Das britische Sozialsystem:Angst auf der Insel

Verluste am Aktienmarkt treffen das britische Sozialsystem.

Gerd Zitzelsberger

(SZ vom 19.11.2002) Das Vorbild kommt ins Wanken: Vielen deutschen Wirtschaftsexperten galt das britische System der Altersversorgung bislang als mustergültig. Denn der Generationenvertrag, bei dem die Erwerbstätigen via Sozialversicherung die Renten bezahlen, hat auf der Insel nur die Funktion einer Grundsicherung. Dafür spielt die private Altersvorsorge eine erheblich größere Rolle.

Doch mit dem Crash an den Aktienmärkten zeigen sich plötzlich Risse in dieser Säule der sozialen Sicherheit. Der Staat kann nur begrenzt einspringen, weil schon das Gesundheitssystem und andere Bereiche künftig erheblich mehr Steuergelder erfordern.

Die britische Sozialpolitik geht jetzt in die Richtung des Bedarfsprinzips: Rentner, die Geld vom Staat wollen, werden öfter als früher nachweisen müssen, dass sie darauf angewiesen sind.

Finanzielle Zeitbombe

Mit der Sozialversicherungsrente allein kommt man in Großbritannien kaum über die Runden: Wer 44 Jahre lang Sozialbeiträge gezahlt hat, erhält auf der Insel eine Basisrente von umgerechnet 510 Euro im Monat. Dazu kommt oft noch ein Aufschlag, der sich bis zu - eher niedrigen - Höchstgrenzen nach dem früheren Arbeitseinkommen bemisst.

Das System hat zwei Vorteile: Die Sozialbeiträge und damit die obligatorischen Lohnnebenkosten sind niedrig. Und Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung - also der Trend, dass den Erwerbstätigen immer mehr Rentner gegenüberstehen - bilden für den Staat kein so gravierendes Problem wie in Deutschland.

Der Nachteil der niedrigen Grundsicherung: In der Praxis liegen die Leistungen der Rentenversicherung so niedrig, dass der Staat bei zwei Millionen Bürgern mit Ersatzleistungen einspringen muss. Großbritannien garantiert seinen Senioren ein Minimum-Einkommen, das bei einem allein Stehenden typischerweise zwischen 655 und 950 Euro pro Monat liegt.

Diese Garantie allerdings, so klagen Volkswirte, führt dazu, dass besonders die unteren Einkommensschichten zu wenig sparen. Niemand sagt es laut, aber dieser Personenkreis fährt in der Tat am besten damit, jedes Pfund in das eigene Haus zu stecken, denn die eigenen vier Wände bleiben bei der Bedarfsprüfung unberücksichtigt. Für den Staat andererseits bedeutet ein solches Verhalten eine finanzielle Zeitbombe. Als Gegenmaßnahme hat London das Rentenalter für Frauen von 60 auf 65 Jahre erhöht.

Sparen mit der Firma

Bei den mittleren und oberen Einkommensschichten Großbritanniens beruht die Altersvorsorge weitaus stärker als in Deutschland auf privater Ersparnis. Der eine große Teil des Geldes steckt im eigenen Haus - 70 Prozent der Familien in England verfügen über Immobilieneigentum - und an der Pensionsgrenze drücken die Hypotheken meist nicht mehr.

Der zweite Großteil der Ersparnisse steckt in betrieblichen Pensionszusagen. Jeder dritte Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber zahlen in Firmen-Pensionsfonds ein; vier Millionen Menschen erhalten gegenwärtig Leistungen daraus. Vor zwei Jahren, auf dem Gipfel des Aktienbooms, verwalteten die Pensionsfonds einen Betrag von über 1.300 Milliarden Euro. Mit der Baisse an den Börsen aber ist das Vermögen in den Pensionsfonds, die ihr Geld überwiegend in Aktien anlegen, um 20 Prozent geschrumpft.

Vor allem aber glauben viele Unternehmen nicht mehr, dass diese Verluste bald wieder eingeholt werden können. Die Folge ist, dass die Firmen - zu Lasten des Gewinns und damit Steueraufkommens - zusätzliches Geld an ihre Pensionskasse überweisen müssen und neue Mitarbeiter oft nur noch erheblich geringere Pensionszusagen erhalten.

Es gibt sogar immer mehr Fälle, in denen selbst bestehende Pensionszusagen de facto gekürzt werden. Der Staat wird künftig wohl öfter helfen müssen. Milder sind für den britischen Fiskus die Probleme allerdings, weil der Beschäftigungsstand hoch ist.

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