Süddeutsche Zeitung

Globaler Arbeitsmarkt:Wenn der Job über Nacht verschwinden kann

Die Autoindustrie vergibt unzählige Mini-Aufträge an Crowdworker, um künstliche Intelligenz zu trainieren. Die Arbeit ist unsicher und bringt kaum Ertrag. Doch in Venezuela sind plötzlich Menschen davon abhängig, zeigt eine Studie.

Von Larissa Holzki

Luis arbeitet jede Nacht so lange er kann, und er arbeitet gründlich. Wer im krisengeschüttelten Venezuela einen Job hat, mit dem er über die Runden kommt, tut viel, um ihn zu behalten. Und der 19-Jährige aus Puerto la Cruz hat einen besonders wichtigen Job: "Man muss sehr vorsichtig sein, es geht um Menschenleben", sagt er. Luis trainiert künstliche Intelligenz (KI) für Autos, die von alleine fahren sollen. Er bringt der Software bei, Bäume, Hunde und Menschen zu erkennen. Sie muss das können. Sonst wüsste das autonom fahrende Auto nicht, wie es eine Kollision vermeiden soll.

Für das Training beschriftet Luis Bilder. Pixel für Pixel. Ist das noch der Mensch? Oder schon der Gartenzaun? Millionen Bilder müssen analysiert werden, Menschen auf der ganzen Welt helfen mit. Aber besonders viele dieser Clickworker kommen neuerdings aus Venezuela. Das zeigt eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

Von der Jeans weiß man ja, dass sich für fast jede Arbeit in der globalisierten Wirtschaft einer findet, der sie noch billiger macht. Die Jeans reist um die Welt, um gesponnen, weichgemacht, genäht, genietet und verkauft zu werden, mal hierhin, mal dorthin. Beim KI-Training wird das Prinzip perfektioniert. Es gibt keine teuren Investitionen, keine Transportkosten; die Arbeit kann blitzschnell neu verteilt werden, wenn Clickworker in einem anderen Land sie für weniger Geld erledigen. "An jedem Bild arbeiten Dutzende von Leuten im Wechsel mit Algorithmen", sagt Florian Schmidt, Professor für Designkonzeption und Medientheorie an der HTW Dresden. "Sie sollen klären: Ist das hier ein Hund? Siehst du noch einen Hund? Ziehe eine exakte Linie um den Hund." Schmidt ist der Autor der Studie.

Organisiert wird das KI-Training über Crowdworking-Plattformen im Internet, bei denen sich jeder anmelden und seine Arbeitsleistung anbieten kann. Die Plattformen sorgen dafür, dass stets mehrere Menschen an einem KI-Projekt arbeiten und sich gegenseitig kontrollieren; zusätzlich überprüft der Algorithmus deren Angaben. Wer welche Plattform nutzt, halten die Autohersteller geheim. Deshalb muss sich auch keiner der Konzerne mit dem Dilemma auseinandersetzen, das Florian Schmidt aufgedeckt hat. Er hat die Zugriffe auf den Plattformen analysiert und festgestellt, dass derzeit die meisten aus Venezuela kommen.

Nach dem Aufwachen kann die Arbeit weg sein

Das Dilemma zeigt sich am Beispiel von Luis. Eigentlich ist er Elektroingenieurstudent, aber das Studium musste er abbrechen, weil die Hyperinflation sein Geld aufgefressen hat. Doch selbst Hochqualifizierte finden kaum noch Jobs in Venezuela. Die Plattformen sind da wie ein Rettungsring. Sie zahlen wenig, aber sie zahlen in Dollar. Deshalb verdingt sich Luis bis tief in die Nacht als Clickworker, und es läuft gut für ihn. Vergangene Woche hat er 50 Dollar verdient, aber er sagt: "Als Mensch ist es nicht mein Ziel, zwölf Stunden plus am Tag vor dem Computer zu sitzen und Umrisse um Objekte zu ziehen."

Zudem ist es ein unsicherer Job. An manchen Tagen brauchen die Konzerne viele neue Daten, an anderen gibt es keine Aufträge. Luis weiß nie, ob er noch der beste Arbeiter ist. Und stets muss er damit rechnen, dass die Aufträge in ein anderes Land wandern, dessen Clickworker noch billiger sind.

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Quelle:
SZ vom 16.05.2019/lho
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