Süddeutsche Zeitung

Kritische Infrastruktur:Wer ist systemrelevant?

Manche Menschen sollen einen Passierschein erhalten, falls doch noch eine allgemeine Ausgangssperre verhängt wird. Das Problem: Welche Mitarbeiter unabdingbar sind, ist oft nicht klar geregelt.

Von Wolfgang Janisch

Es gibt den Mythos, Deutschland sei besonders engmaschig durchreguliert. Das wird normalerweise beklagt, aber in der Krise könnte das doch endlich mal von Vorteil sein. Stimmt das? Und vor allem: Trifft das auch für die "kritischen Infrastrukturen" zu, also die systemrelevanten Branchen, deren Ausfall dramatische Folgen für das Gemeinwesen hätte? Die Ernährungswirtschaft ist so eine "kritische Infrastruktur". Aber wer in diesen Tagen in Supermärkten einkauft, der trifft auf Kassiererinnen, an denen täglich Hunderte Kunden in Armlänge vorbeiziehen. Handschuhe, Mundschutz, gar eine Plexiglaswand? Mal ja, mal nein. Noch vor zwei Tagen war bei Lidl in Karlsruhe davon nichts zu sehen.

Ob und wie die Lebensmittelketten ihr Personal schützen - also das Rückgrat der Ernährungswirtschaft -, das bleibt ihnen selbst überlassen. Zwar gibt es ein wuchtig klingendes "Ernährungssicherstellungs- und -vorsorgegesetz", aber da steht nichts über den Gesundheitsschutz für Kassiererinnen - obwohl deren massenhafter Ausfall weitaus gravierendere Engpässe verursachen würde als nur den Mangel an Toilettenpapier. Rechtlich könnten hier allenfalls die Ministerien der Länder mit eiligen Verordnungen intervenieren. Ansonsten hofft man auf die Umsicht der Betriebe.

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Klar ist immerhin eines: Wer für einen dieser systemrelevanten Sektoren arbeitet, der wird einen Passierschein erhalten, sollte demnächst doch noch eine allgemeine Ausgangssperre verhängt werden. Welche Arbeiten freilich auch in der Krise unverzichtbar sind, darüber wird es Streit geben. Denn die Liste der "kritischen" Branchen ist lang . Unter der Überschrift "Transport und Verkehr" findet sich beispielsweise der Punkt "Logistik" - der indes nicht jedem Zulieferer freie Fahrt in Krisenzeiten gewähren wird. Für Nahrungsmittel oder Medizintechnik ist der Fall klar. Aber schon jetzt, so ist aus dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zu hören, geht das Gerangel los: Muss ein Zulieferer für Nutzfahrzeugaufbauten den Freifahrschein bekommen, nur weil er auch für Feuerwehrfahrzeuge liefert? In einer Pandemie, wohlgemerkt, nicht in einem Gluthitzesommer?

Ein heikler Punkt sind auch die Corona-Tests. Ob Mitarbeiter relevanter Organisationen hier Vorfahrt haben, ist nicht bundeseinheitlich geregelt. Eine Gerichtspräsidentin aus Norddeutschland, die über Corona-Symptome klagt, wurde hier abschlägig beschieden, weil sie nicht die Kriterien für einen Test erfüllte - obwohl auch die Justiz eine kritische Infrastruktur ist.

Weitreichende Befugnisse kann sich ein Bundesland durch die Ausrufung des Katastrophenfalls verschaffen. Dann könnten notfalls sogar Mitbürger dazu herangezogen werden, Personallücken in wichtigen Arbeitsfeldern zu schließen. Denkbar ist zudem, Spediteure in Anspruch zu nehmen, wenn Transportkapazitäten nötig sind. Auch die Bundeswehr kann um Amtshilfe ersucht werden, beispielsweise, um mit Sanitätssoldaten und Bundeswehrkrankenhäusern auszuhelfen. Wobei: Die Notfallkapazitäten im Gesundheitssektor waren schon einmal besser aufgestellt. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es 220 Hilfskrankenhäuser, oft unter Schulen eingerichtet. Heute gibt es für das Gesundheitswesen nicht einmal ein bundeseinheitliches Vorsorgegesetz für den Vorhalt von Ressourcen.

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SZ vom 20.03.2020
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