Das ist für viele die große Verlockung: Nach dem stressigen Abitur, nach Wochen und Monaten des Paukens und des Zitterns erst mal gar keine Prüfungen. Die Freiheit lockt, man kann ein Jahr lang durch die Welt reisen und zwischendurch jobben - das erscheint vor allem jenen als Traum, die noch nicht wissen, wie ihre berufliche Zukunft aussehen soll. Doch so verständlich die Neigung zu einem Gap Year vor Beginn des Studiums oder der Ausbildung sein mag: Man sollte sich davor gut überlegen, ob eine so lange Auszeit wirklich notwendig ist.
Vorab gilt es dabei zu prüfen, ob man sich eine einjährige Auszeit überhaupt finanziell leisten kann. Wer während der Schulzeit kein Geld angespart hat und keine Zuschüsse von Großeltern oder Eltern erhält, merkt schnell, wie teuer nicht nur die Anreise, sondern auch das Leben in Australien, Neuseeland oder Nordamerika sein werden, selbst wenn man sich durch einen Job Geld dazu verdienen kann. Hinzu kommt, dass den Eltern zum Beispiel bei "Work and Travel"-Aufenthalten im Ausland der Anspruch auf das Kindergeld während dieser Zeit verloren geht, sofern man sich nicht für ein Studienfach eingeschrieben hat. Außerdem sollten Abiturientinnen und Abiturienten in sich hineinhorchen, wie groß die Gefahr ist, von Heimweh geplagt zu werden, wenn man in den Weiten Kanadas auf einer entlegenen Pferderanch mithilft. Manche sind wenig anfällig für Heimweh, aber es gibt andere gute Gründe, warum eine einjährige Auszeit zumindest direkt nach dem Abitur gut überlegt sein will.
Sich nach der einjährigen Pause wieder in strengere Strukturen einzufügen, ist schwierig
Annette Gröger ist Psychologin sowie Studien- und Laufbahnberaterin in Frankfurt. "Zu mir in die Beratung kommen immer wieder junge Menschen, die mit der Strukturlosigkeit im Gap Year nicht umgehen konnten und danach Schwierigkeiten haben, sich anzupassen und beruflich zu orientieren. Das empfinden sie als sehr belastend", sagt sie. Vielen werde in diesem Übergangsjahr nicht klar, was sie beruflich eigentlich machen wollen. Wer zum Beispiel in Neuseeland als Erntehelfer Kiwis pflückt oder am Empfang eines Hostels in Chile arbeite, mache keine relevanten Erfahrungen, die für die Berufsfindung wichtig sein könnten. "Durch diese einfachen Hilfsarbeiten erfährt man in der Regel nur, ob man zum Beispiel generell kommunikativ oder organisiert ist", sagt die Beraterin. Verstärkend komme dazu, dass man fernab der Heimat oft mit interessanten Lebensentwürfen, etwa von Jungunternehmern, Kreativen oder Künstlern, konfrontiert werde. "Das hört sich natürlich in dem Moment sehr interessant an, ist aber mehr eine Außen- als eine Innenorientierung. Also weniger eine Orientierung daran, welche persönlichen Neigungen man eigentlich hat", sagt Gröger.
Die Außenorientierung könne eher zu einer Verunsicherung führen, weil damit eine systematische Überprüfung der eigenen Interessen vermieden werde. Doch genau damit müsse man sich im Gap Year eher auseinandersetzen. Wenn man es nicht dafür nutze, eigene Ideen und Vorstellungen durch Praktika auszuprobieren, dann könne die Verschiebung einer Auszeit auf ein Urlaubssemester oder die Zeit nach dem ersten Studienabschluss eine sinnvolle Alternative sein.
Skeptisch ist bei bestimmten Vorstellungen seiner Klienten zum Übergangsjahr auch Karriereberater Lutz Thimm. "Für einige ist der Trip ins ferne Ausland nur ein Klammern, um ja nur irgendetwas für die Zeit nach dem Abitur zu haben", sagt er. So manch einer wisse nicht, was er machen solle und entscheide sich deswegen für ein Übergangsjahr, um an den Stränden von Bali eine schöne Zeit zu haben. Jenen, die sich im Unklaren darüber sind, was sie beruflich machen wollen, rät Thimm von einem solchen Auslandsjahr ab. Die Zeit könne dann eher dafür genutzt werden, das System Schule und Ausbildung zu verstehen - wie ist ein Studium aufgebaut, welche Ausbildungsberufe gibt es, was ist eine Berufsakademie? "Wenn ich das meine Klienten frage und dann in ein Fragezeichen schaue, dann weiß ich, der hat sich damit nicht beschäftigt", sagt er. In solchen Fällen sei er klar gegen das Gap Year.
Was manche zudem gerne unterschätzen: Mann kann durch das Jahr Pause auch das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft verlieren. "Ich komme raus aus dem Lernprozess und dem Raum, aus dem ich positive Resonanz erfahre", erklärt die Psychologin Gröger. Wenn beides fehle, könnte darunter das Selbstvertrauen leiden. "Die eigene Erwartung, konkrete Aufgaben und Anforderungen wirksam zu meistern, kann leiden, je länger ich weg bin vom Abitur", sagt sie. Je weniger Erfolgsrückmeldungen man erlebe, umso mehr könne das Selbstvertrauen sinken.
Wer sich für eine einjährige Auszeit entscheidet, gleich ob "Work and Travel", Freiwilligendienst, Au-pair oder Bundeswehr, muss auch damit umgehen, dass bei der eigenen Rückkehr in die Heimat der Freundeskreis in Studium und Ausbildung schon weiter ist. Manch einer kommt dann ins dritte Semester, der andere bereits ins zweite Ausbildungsjahr, während man selbst eventuell noch immer nicht genau weiß, was man eigentlich will. "Das kann schon einen ziemlichen Zeit- und Erfolgsdruck bedeuten, wenn die anderen immer ein Stückchen weiter sind", sagt Gröger. Zudem steige der Erwartungsdruck der Eltern, die sich womöglich sorgen, dass das eigene Kind den Absprung nicht schafft. Die Folge: Immer wieder wählen junge Menschen nach dem Ende des Gap Years schnell und unüberlegt Studiengänge - und damit oft lediglich das, was sich die Eltern wünschen oder was sich unkompliziert realisieren lässt. Ob das dann wirklich die eigenen Interessen trifft, ist oft unklar. Gröger: "Das sind oft auch spätere Studiengangwechsler, die dann nach einer Beratung suchen."