Coaching in der Kirche:Grenzen verschieben - Stück für Stück

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Wer zu Jessica Wahl kommt, will seine Performance verbessern - und landet vor dem Altar. Zu Besuch bei einer Personal Trainerin.

K. Hanke und N. Meingast

Die Taborkirche in Berlin-Kreuzberg. Kein Gold, keine Schnörkel. Die schlanken Säulen aus Sandstein wirken puristisch, evangelisch. Die Sonne fällt matt durch Mosaikfenster auf dunkle Kirchenbänke und den blassroten, abgenutzten Teppich. Vor dem Altar steht eine zierliche Frau. Konzentriert blickt sie in den Raum. Sie schließt die Augen, atmet tief ein. So tief, dass sich ihr Bauch wölbt. Dann öffnet sie den Mund: Aaahhhhhhh. Gut zehn Sekunden lang hält sie den Ton. Er hallt bis in die Glaskuppel. Ein zweites Mal: Ooooohhh. Laut und klangvoll. "Ich wusste gar nicht, dass meine Stimme so stark sein kann", sagt sie.

Jessica Wahl: In der Berliner Taborkirche feilt sie mit ihren Klienten am öffentlichen Auftreten. (Foto: Foto: Hanke)

Die Frau vor dem Altar ist Managerin. Ihre Werbeagentur läuft zwar gut, doch der Vertrieb ist ein Problem. Verhandeln ist noch nicht ihre Stärke. Jetzt soll sich das ändern. Darum nimmt sie Coaching-Stunden bei Jessica Wahl. "Die Stimme ist ein wichtiger Teil der Persönlichkeit, dem viele Menschen instinktiv Glauben schenken", sagt Wahl. "In einer Kirche wird ihr volles Volumen hörbar."

Berufliche Defizite überwinden

Die Taborkirche ist kein gewöhnliches Gotteshaus: Neben zwei Pfarrers-Wohnungen befindet sich hier auch das "Trainingszentrum für Personal Performance" von Jessica Wahl. Für die Kirche hat sie den Schlüssel. Wochentags ab 13 Uhr gehört sie nur ihr. Der Trainingsraum erstreckt sich im ersten Stock über den gesamten Seitenflügel, vier Bogenfenster lang: hell, modern, minimalistisch. Ein kleiner Konferenztisch, ein Flachbildschirm, Designermöbel.

Mehr als 10.000 Stunden hat die 36-Jährige hier inzwischen gegeben. Sie hat mit Menschen gearbeitet, die sonst nicht unbedingt in der Kirche anzutreffen sind: Geschäftsführer, Abgeordnete, Steuerberater, Vertriebsleiter, Spitzensportler, Moderatoren.

Am Ende steht die Höchstleistung

Jetzt sitzt sie ihrer Klientin auf Ledersesseln gegenüber. "Und nächste Woche halten Sie eine Rede", sagt Wahl freundlich und bestimmt. Der Werbefrau behagt die bevorstehende Rede sichtlich wenig. Coaching ist ähnlich wie Psychotherapie: Wer sich professionelle Hilfe holt, will Veränderung, berufliche Defizite überwinden, besser als die anderen sein.

"Der Wunsch, noch mehr leisten zu wollen, spielt im Coaching immer eine große Rolle", sagt Wahl. Leistung hat für sie allerdings nichts mit Druck zu tun. Im Gegenteil, der Druck müsse raus. "Leistung wird fälschlicherweise immer mit hartem Arbeiten und Zähne zusammenbeißen in Verbindung gebracht." Das sei eine Sackgasse, für den Einzelnen und für das Unternehmen. "Ich führe die Leute da wieder raus, motiviere sie und verschiebe ihre Grenzen Stück für Stück weiter nach außen", sagt Wahl. "Aber eines ist klar: Am Ende des Coachings müssen meine Klienten absolute Höchstleistung bringen können."

Der Begriff "Coaching" kam zu Beginn der Neunziger aus den USA nach Europa und ist inzwischen zum Modewort geworden, das für fast jeden Bereich der Weiterbildung herhalten muss. Der Begriff ist nicht geschützt, jeder kann ihn auf seine Visitenkarte drucken. Es gibt Bachblüten-, Astro- und Hypnose-Coaching ebenso wie Trainer, die sich auf Schamanismus, Tarotkarten oder Kinesiologie beziehen.

Auf der nächsten Seite: Warum Motivationsseminare Unfug sind und wie Coachees Routinen durchbrechen.

Eigene Möglichkeiten realistisch einschätzen

Der Coaching-Markt wächst jedes Jahr um zehn bis zwanzig Prozent. Etwa 40.000 Coaches gibt es in Deutschland. "Viel zu viele", sagt Christopher Rauen, Vorstandsmitglied im Deutschen Bundesverband Coaching. "Nur jeder Zehnte davon ist wirklich im Management-Bereich tätig." Unter Coaching versteht er einen zeitlich klar definierten Prozess, in dessen Verlauf der Klient lernt, die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Ganz anders als Motivationsseminare, die mit ihrer Du-kannst-alles-erreichen-Mentalität und simplen Beschwörungsformeln à la "Tsjakkaa" die Branche immer noch in Verruf bringen.

"Motivationsseminare sind Unfug", sagt Rauen. "Sie haben zwar im ersten Moment den Erwartungen vieler Menschen entsprochen, aber keinen dauerhaften Erfolg gebracht." Und was macht einen fähigen Coach aus? Vor allem Erfahrung. Erfahrung in Fällen, die dem eigenen Problem ähneln, sagt der Experte. Jeder sollte sich in einem ersten Gespräch danach erkundigen. Außerdem: Vielfalt. Von Trainern, die sich nur auf eine Methode festlegen, rät er ab. "Ein Coach muss in der Lage sein, beim Klienten einen Perspektivenwechsel herbeizuführen", sagt Rauen. Dafür benötige er je nach Problemstellung und Persönlichkeit des Klienten verschiedene Methoden, um sie individuell kombinieren zu können.

Jörg Tewes ist Theaterschauspieler. Ein nachdenklicher Mann von 43 Jahren, der an Bühnen in ganz Deutschland arbeitet. Es läuft gut in seinem Beruf. Wie bei den meisten Klienten von Jessica Wahl. Doch irgendetwas fehlte. Was, wusste Tewes selbst nicht genau und ging zu Wahl. Es war nicht sein erstes Coaching. Als Schauspieler hat Tewes immer wieder mit Trainern zu tun, die an seiner Bühnenpräsenz arbeiten. "Viele verwenden nur eine bestimmte Methode, an die sie mich als Klienten anpassen wollen. Egal, ob es passt oder nicht", sagt er.

Routinen durchbrechen

Wahl setzte bei seinen Gewohnheiten an, um seine Leistung auf der Bühne weiter zu verbessern. "Wer immer dasselbe tut, kommt zu immer gleichen Ergebnissen", sagt sie. In langen Gesprächen arbeitete sie mit Tewes Routinen heraus, die durchbrochen werden sollten. Wie das Lesen der Texte kurz vor der Aufführung. Das tat er immer, aus Angst vor einem Blackout. Wahl riet ihm, es sein zu lassen. Das Ergebnis? "Ich habe das Gefühl, jetzt lockerer zu spielen, souveräner. Ich weiß, ich kann mich auf mich verlassen", sagt Tewes.

Coaching bringt oft nur indirekte Ergebnisse. In der Physik ist Leistung berechenbar: pro Zeiteinheit umgesetzte Arbeit. Eine einfache Formel. In der Wirtschaft dagegen wird Leistung gern mit Erfolg gleichgesetzt. Und der ist dann nicht so leicht messbar. "Eine konkrete Leistungssteigerung, die sich in Prozentpunkten ausdrücken lässt, halte ich für Unsinn", sagt Coaching-Experte Rauen.

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Konfrontation mit dem Unplanbaren

Fragt man Jessica Wahl, was Leistung steigert, antwortet sie: "Spontan sein. Wer zu viel analysiert, schafft sich selbst Blockaden und wird langsam." An Spontaneität arbeitet sie mit Andreas Neumann. Der Steuerberater möchte seine Rhetorik verbessern, lebendige Vorträge halten, seine Zuhörer begeistern. "Vorbereitet und geplant wie das Heute-Journal" seien seine Reden bisher gewesen, sagt Neumann. Wahl konfrontiert ihn mit dem Unplanbaren: ohne Notizen frei zu sprechen, fünf lange Minuten. Die Kamera läuft, jedes Wort wird aufgezeichnet. Der Steuerberater braucht schauspielerisches Talent, muss außerdem Sprechweise und Mimik bekannter Personen imitieren. Fünf Sitzungen später sieht er die Fortschritte. Viel lockerer sei er. Neulich bei einem Vortrag war er erstaunt, wie gebannt die Zuhörer folgten.

Ein Wirtschaftsstudium, Berufserfahrung in einer Unternehmensberatung, Coaching-Ausbildung - das ist der gängige Weg ins Business Coaching. Jessica Wahl hat es anders gemacht. Sie ist Atem-, Sprech- und Stimmtherapeutin. Eine klassische Karriere nach dieser Ausbildung hätte anders ausgesehen: Die meisten Absolventen gehen zum Theater oder an die Oper. Oder sie landen in der Logopädie, wie Wahl zunächst. Sie behandelte Menschen, die stottern, fehlerhaft sprechen, falsch atmen. Das Medizinische ist heute nur ein Teil ihrer Arbeit. Nach einer Ausbildung im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) begann sie mit dem Coaching. Sie nahm sich zugleich Zeit für ungewöhnlichere Ausbildungen, absolvierte eine in Gesang, assistierte Fotografen und arbeitete in der Sterbebegleitung in Berliner Hospizen. Heute kann Wahl viele Methoden kombinieren. Sie schöpft aus dem klassischen Business-Coaching, ergänzt es durch medizinische und künstlerische Aspekte.

Souverän und eloquent

Zwei Wochen nach den Stimmübungen in der Kirche steht Wahl mit ihrer Klientin, der Werbemanagerin, auf einer Fußgängerbrücke am Landwehrkanal. Ausflugsschiffe fahren vorbei, Touristen winken. "Was unterscheidet Ihr Unternehmen von anderen?", fragt Wahl, die heute Reporterin spielt und eine Filmkamera in der Hand hält. Sinn der Übung: auch in schwierigen Situationen spontan und kompetent zu antworten. Die Managerin kneift die Augen ein wenig zusammen. "Ganz einfach, wir...", ein Jogger ruft "Tschuldigung" und zwängt sich zwischen ihr und der Kamera vorbei. Kurze Pause. Zeit nachzudenken. Dann fährt sie fort.

Sieben Fragen beantwortet sie, immer wieder von Passanten unterbrochen. "Durch die vielen Störungen waren Sie viel natürlicher als beim Kameratraining im Raum", sagt Wahl auf dem Rückweg in die Kirche. Die Managerin ist skeptisch, sie möchte das Ergebnis am liebsten gar nicht ansehen. Kurz darauf ist sie überrascht. Die Aufnahme zeigt eine souveräne und eloquente Frau. Gut für den Vertrieb.

© SZ vom 27.12.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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