Tapfer schluckt sie jeden Morgen ihren Medikamenten-Cocktail: eine Handvoll Tabletten gegen die schwere Lebererkrankung, gegen die rheumaähnlichen Beschwerden in ihren Gelenken und für den Magen, damit der die Pillen verträgt. Die Finger schmerzen häufig, die Schulter auch, die Gelenke sowieso. Sie fühlt sich müde, ausgelaugt, unkonzentriert und möchte an manchem Morgen am liebsten gar nicht aufstehen. Doch die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern reißt sich zusammen. Geht ins Büro und vertuscht dort ihre Symptome.
"Ich muss meinem Arbeitgeber doch nicht auf die Nase binden, dass ich krank bin", sagt Cornelia Falke (Name geändert). "Das bringt mir nur Nachteile." Die 45-jährige Bürokauffrau arbeitet seit zehn Jahren bei einer Steuerberatungsgesellschaft. "Wir haben ja nicht einmal einen Betriebsrat, der sich für mich einsetzen könnte." Und so bringt sie viel Energie auf, um gesund zu wirken. Ihre häufigen Arztbesuche und Termine in Kliniken deckt sie mit Urlaub ab oder erfindet plausible Erklärungen, die keinen Verdacht erregen. Manchmal nimmt sie auch eine Krankschreibung hin, doch sie achtet immer darauf, nicht mehr Fehltage als andere anzuhäufen.
Zähne zusammenbeißen
Falke beschreibt ihre Branche als "extrem erfolgsorientiert". Wer nicht belastbar sei, falle durchs Raster, komme für Gehaltserhöhungen nicht in Betracht und erhalte auch keine gut dotierten Sonderaufgaben. Kranke Kollegen über 50 wären in der Vergangenheit schon mal versetzt worden, hätten langweilige Aufgaben bekommen und schließlich aus Frust gekündigt. "Diesen Weg will ich vermeiden", so Falke. Aus Angst vor Arbeitslosigkeit und Mobbing schweigt sie lieber und beißt die Zähne zusammen.
Ganz unbegründet ist ihre Angst nicht. "Kommt es infolge einer chronischen Erkrankung zu häufigen Fehlzeiten, kann dies, selbst wenn sie jeweils von kurzer Dauer sind, eine Kündigung rechtfertigen", sagt der Berliner Arbeitsrechtler Wolfgang Betz. Die Fehlzeiten müssten allerdings einen erheblichen Umfang haben. Was genau "erheblich" bedeutet, ist unklar. Doch Betz zufolge "müssen bei einem längeren Arbeitsverhältnis die häufigen Fehlzeiten über Jahre auftreten und auf jeden Fall sechs Wochen im Jahr übersteigen."
Verbesserter Kündigungsschutz
Cornelia Falke hofft derweil, dass sie bald als schwerbehindert anerkannt wird. Damit stünden ihr fünf Tage Urlaub mehr zu und sie hätte einen besseren Kündigungsschutz. Dafür würde sie die Karten offen auf den Tisch legen. Doch bis dahin schweigt sie über ihren Zustand. Eine Mitteilungspflicht besteht in ihrem Fall nicht. Die liegt nur vor, "wenn der Arbeitnehmer wegen der Schwere der Erkrankung dauerhaft die Arbeitsleistung nicht erbringen kann. Oder wenn die Krankheit andere Arbeitnehmer oder den Betriebsablauf konkret gefährdet", sagt Betz.
Für Arbeitgeber rechnet es sich übrigens nicht, wenn Mitarbeiter krank zur Arbeit gehen - egal, ob die Beschwerden akut oder chronisch sind. Denn aufgrund der geringeren Arbeitsproduktivität verursachen sie höhere Kosten für die Betriebe als wenn sie im Bett blieben. Dieses Phänomen, Präsentismus genannt, verursacht Studien zufolge in den USA dreimal so hohe Kosten wie die Fehltage. Doch das hat sich offenbar in Deutschlands Chefetagen noch nicht herumgesprochen. Denn Personalleiter schielen vor allem auf die Fehlzeiten. Die haben zwar im letzten Jahr den historischen Tiefstand von 3,2 Prozent erreicht, sagen aber über die Gesundheit der Arbeitnehmer wenig aus. Zumal es insbesondere bei chronisch Kranken auf Dauer zu längeren Fehlzeiten kommt, wenn sie die Krankmeldung verschieben oder unterlassen. Denn ihr Gesundheitszustand verbessert sich auf diese Weise nicht.
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Ausstieg aus dem Hamsterrad
Auch die Gymnasiallehrerin Regine Karz (Name geändert) verschwieg jahrelang vor Kollegen und Schülern die Symptome ihrer Erkrankung, Multiple Sklerose. Lange Zeit wusste nur ihr Schulleiter davon. Bis ihr Gang immer unsicherer wurde und die Fehlzeiten sich häuften, weil sie bei jedem Schub vier bis sechs Wochen ausfiel. Rückblickend ist sie ihrem Arzt sehr dankbar, dass er ihr ungewöhnlich direkt eine längere Krankschreibung anriet.
Die Vorstellung, sich eventuell vorzeitig pensionieren lassen zu müssen, belastete sie allerdings. "Ich liebte meinen Beruf, wollte ihn nicht aufgeben", sagt sie. Doch der Druck und vor allem die unterstellten Erwartungen der anderen kosteten sie zu viel Kraft. "Mein geplatztes Selbstbild war anfangs das Schlimmste. Trotzdem erlebe ich es heute als positiv, aus dem Hamsterrad ausgestiegen zu sein. Ich fühle mich besser als zuvor", sagt Karz.
Herzbeschwerden und depressive Verstimmungen
Wie viele chronisch Kranke es in Deutschland gibt, weiß niemand so genau. Bisherige Schätzungen gehen von etwa 20 Prozent aus. Doch vermutlich ist die Zahl zu niedrig. Dem "WIdO-Monitor 2008" zufolge, den die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erhebt, gibt fast jeder dritte Arbeitnehmer chronische Beschwerden an. Hinzu kommt: Je älter die Menschen, desto öfter leiden sie an einer chronischen Krankheit. Angesichts des demographischen Wandels kommt auf die Betriebe also eine neue Herausforderung zu.
Herz-Kreislauf-Beschwerden, Atemwegs- oder Muskel- und Skelett-Erkrankungen gelten als die typischen chronischen Krankheiten. Psychische Belastungen laufen jedoch seit einigen Jahren den klassischen Krankmachern den Rang ab. So schätzt die Weltgesundheitsorganisation, dass bis zum Jahr 2020 die depressiven Verstimmungen nach den Herzbeschwerden an die zweite Stelle der weltweiten Krankheiten vorrücken werden.
Schon heute sind sie nach Angaben der GKV bei Frauen die dritthäufigste Ursache für Fehlzeiten. Als Gründe für den arbeitsbedingten Stress nennt der Bundesverband Deutscher Psychologen vor allem die Angst vor dem Jobverlust, aber auch die Kultur im Unternehmen oder das Verhalten von Führungskräften.
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Stufenweise Wiedereingliederung
"Manchmal beschleunigen Arbeitsbedingungen eine chronische Erkrankung, wenn die individuellen Voraussetzungen gegeben sind", sagt Marianne Engelhardt-Schagen, die mehr als 20 Jahre als Betriebsärztin in einem Energieversorgungsunternehmen gearbeitet hat. In vielen Fällen lasse sich bei genauer Analyse der Ursachen Abhilfe schaffen - ob bei psychischem Stress in Callcentern oder ständigen Rückenproblemen bei Kabelmonteuren. "Prävention rechnet sich", sagt die Arbeitsmedizinerin. "Blöd ist nur: Sie rechnet sich nicht gleich."
Doch die Alterung der Gesellschaft wird die Betriebe zum Umdenken zwingen. Engelhardt-Schagen ist davon überzeugt, dass Gesundheitsmanagement zum Imagefaktor werden wird. "In guten Betrieben", sagt sie, "bieten Chefs, die ihre erfahrenen Mitarbeiter trotz Krankheit nicht verlieren wollen, Alternativen an."
Sie versuchen, sie stufenweise wieder einzugliedern, gestalten den Arbeitsplatz um oder fahnden nach anderen individuellen Lösungen. Gleichzeitig setzen sie auf Prävention. "Wir müssen den Gesundheitsschutz neu aufziehen, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, die die heute 20-Jährigen nicht krank machen", sagt die Arbeitsmedizinerin. "Sonst schaffen die das nicht bis 67."