Chronisch krank im Job:Wenn Ehrlichkeit schadet

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Chronisch krank ist nicht behindert, das hat arbeitsrechtliche Folgen.

(Foto: Oliver Killig/dpa)

Soll man sein Leiden im Bewerbungsgespräch lieber verschweigen? Viele chronisch Kranke stehen irgendwann vor dieser Frage. Im Gegensatz zu Behinderten sind sie arbeitsrechtlich kaum abgesichert.

Von Ina Reinsch

Als Judith Sommer im Jahr 2014 plötzlich mit Bauchschmerzen und einem rapiden Gewichtsverlust zu kämpfen hat, gerät ihre Welt aus den Fugen. Die Gymnasiallehrerin aus Baden-Württemberg wird in eine Klink eingewiesen, die Diagnose steht bald fest: Morbus Crohn, eine chronische Darmerkrankung, die in Schüben verläuft. Ihr Arzt will sie krankschreiben, sie geht arbeiten. Noch glaubt Sommer, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, an eine Fehldiagnose, will nicht ausfallen.

Doch es wird schlimmer. Essen kann sie kaum noch bei sich behalten, die starken Medikamente machen ihr zu schaffen. Im Dezember zieht sie ihren Direktor ins Vertrauen: "Wenn ich während des Unterrichts die Klasse verlassen musste, um die Toilette aufzusuchen, habe ich meine Aufsichtspflicht vernachlässigt. Ich musste es öffentlich machen", sagt sie.

Ehrlich sein oder lieber schweigen?

Damit sie weiter arbeiten kann, isst Sommer nur noch zwischen 14 und 16 Uhr. Nur so gibt ihr Darm am nächsten Tag Ruhe. Es geht ihr schlecht. Doch sie fehlt im ganzen Jahr nur zwölf Tage - auch nicht mehr als andere Kollegen wegen einer Grippe. Die Quittung für ihren Einsatz erhält sie mit ihrer dienstlichen Beurteilung im Januar 2015. Ihr Vorgesetzter bescheinigt der engagierten Lehrerin, die bisher nur mit Bestnoten geglänzt hat "mangelnde Belastbarkeit" - für Sommer ein Schlag ins Gesicht.

Die Erfahrung, im Beruf zurückgesetzt zu werden, ist für chronisch kranke Menschen keine Seltenheit. In einer Studie des Robert-Koch-Instituts gaben 43 Prozent der Frauen und 38 Prozent der Männer im Jahr 2012 an, von mindestens einer chronischen Krankheit betroffen zu sein. Häufig sind es Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf- oder Atemwegserkrankungen, die ihnen zu schaffen machen - nicht nur privat. Im Job sind sie meist mit dem Vorurteil konfrontiert, nicht belastbar zu sein und ständig zu fehlen. Chronisch Kranke stehen damit vor der schwierigen Entscheidung: ehrlich sein oder lieber schweigen?

Chronisch kranke Bewerber dürfen lügen

"Grundsätzlich sind chronisch Kranke nicht verpflichtet, dem Arbeitgeber ihre Krankheit mitzuteilen", sagt Alexander Bredereck, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Berlin. "Eine allgemein gehaltene Frage nach chronischen Erkrankungen im Vorstellungsgespräch ist unzulässig, Bewerber dürfen hier lügen." Der Arbeitgeber könne das Beschäftigungsverhältnis deshalb auch nicht fristlos kündigen oder anfechten. Ein Fragerecht steht ihm nämlich nur dann zu, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beantwortung der Frage hat. Bredereck: "Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine Krankheit vorliegt, die so schwerwiegend ist, dass der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung gar nicht erbringen kann oder wenn etwa wegen einer Ansteckungsgefahr ein Gesundheitsrisiko für Kollegen oder Dritte besteht."

Carola Engler ist Vorstandsmitglied der Deutschen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung und berät Betroffene in sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen. Sie sagt: "Ich rate eher dazu, ehrlich zu sein, auch wenn keine juristische Verpflichtung besteht." Letztlich komme es aber immer auf den Einzelfall an. Dabei spiele vor allem die mögliche Reaktion des Arbeitgebers, aber auch die eigene Persönlichkeit eine Rolle.

Judith Sommer würde ihre chronische Krankheit rückblickend lieber verschweigen. Aber auf Drängen ihres Arztes meldet sie sich beim Versorgungsamt. Das erkennt im vergangenen April einen Grad der Behinderung von 50 Prozent an. Damit gilt sie als schwerbehindert.

Das Arbeitsrecht schützt schwerbehinderte Menschen

Schwerbehinderte Menschen werden im deutschen Arbeitsrecht besonders geschützt. "Sie haben unter anderem Anspruch auf zusätzlichen Urlaub und erhalten besonderen Kündigungsschutz", sagt Bredereck. "Das bedeutet, dass die Kündigung eines Schwerbehinderten nur mit Zustimmung des Integrationsamtes zulässig ist." Doch was ist mit den vielen chronisch Kranken, deren Grad der Behinderung unter der 50-Prozent-Marke bleibt oder die einen entsprechenden Antrag auf Anerkennung gar nicht gestellt haben?

Gemäß Artikel 3, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Im Arbeitsrecht muss der Chef zudem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) beachten. Es verbietet nicht nur eine Diskriminierung etwa wegen des Alters oder des Geschlechts, sondern auch die Benachteiligung von Behinderten im Berufsleben. "Das Gesetz gilt damit für alle behinderten Menschen, nicht nur für Schwerbehinderte", stellt Bredereck klar.

Wann gilt ein Mensch als behindert?

Laut statistischem Bundesamt werden in Deutschland 85 Prozent der Schwerbehinderungen durch eine Krankheit verursacht. Das neunte Sozialgesetzbuch sieht einen Mensch als behindert an, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Grade der Behinderung wird dabei auf einer Skala bis 100 bestimmt, und zwar in Zehnerschritten. Von einer Behinderung wird ab einem Grad der Behinderung von 20 gesprochen. Als schwerbehindert gilt ein Mensch ab einem Grad der Behinderung von 50. Ina Reinsch

Wer ist behindert, wer krank?

Dennoch tun sich Gerichte derzeit mit einer klaren Abgrenzung zwischen chronischer Krankheit und Behinderung schwer. "Denn eine chronische Krankheit als solche ist kein Diskriminierungsgrund nach dem AGG", sagt Manfred Schmid, Rechtsanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei Pinsent Masons in München. Sofern die chronische Krankheit nicht den Grad einer Behinderung erreiche, blieben die Betroffenen bislang vielfach ungeschützt. Doch in der Rechtsprechung setzt gerade ein Umdenken ein.

So hat der Europäische Gerichtshof seit 2013 in verschiedenen Entscheidungen klargestellt, dass eine Behinderung auch dann vorliegen kann, wenn die Einschränkung, unter der die Person leidet, sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen Teilhabe am Berufsleben hindert. Das Bundesarbeitsgericht hat Ende 2013 in einem Fall entschieden, dass eine symptomlos verlaufende HIV-Infektion mit einem Grad der Behinderung von zehn unter den Behinderungsbegriff des AGG zu fassen ist. Das hatte zur Folge, dass die ausgesprochene Kündigung im konkreten Fall wegen verdeckter Ungleichbehandlung nach dem AGG unwirksam war (19.12.2013, Az: 6 AZR 190/12).

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Es geht auch anders: In Deutschland wird Diskriminierung aufgrund des Gesundheitszustands nicht ausdrücklich vom Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erfasst. Das ist in vielen Ländern anders. Die Anknüpfungspunkte sind dabei ganz verschieden. In Frankreich und Kanada gibt es beispielsweise ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Krankheit. Tschechien und Ungarn setzen dagegen bei der Gesundheit oder dem Gesundheitszustand an. Die Niederlande, Portugal und Rumänien schützen wiederum explizit Menschen mit einer chronischen Krankheit vor Benachteiligung. In einigen Ländern fallen einzelne Krankheiten auch unter den Begriff der Behinderung. So gelten etwa in Großbritannien Krebs, Multiple Sklerose und eine HIV-Infektion ausdrücklich als Behinderung. Nicht alle chronischen Leiden finden hier Erwähnung, sie werden aber implizit erfasst. Auch Kanada, die Schweiz und Frankreich beziehen chronische Krankheiten beim Begriff der Behinderung indirekt mit ein. Darüber hinaus erfassen Frankreich, Kanada, die Niederlande und die Schweiz "chronische Krankheit" als eigenständige ungeschriebene Benachteiligungskategorie im Rahmen einer offenen Liste von Diskriminierungsverboten. Ina Reinsch

In Zukunft kommt es auf den Einzelfall an

"Das Wegweisende an diesen Urteilen ist, dass die Gerichte den Begriff der Behinderung nicht mehr so stark an der Person festmachen, sondern ihren Blick mehr auf die Umwelt richten", sagt Bernhard Franke, Referatsleiter für Grundsatzangelegenheiten und Beratung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Bestünden hier Barrieren, die zu einer mangelnden Teilhabe des erkrankten Menschen führen, könne das in einer Behinderung münden. Anwalt Schmid sagt: "In Zukunft wird es hier ganz stark auf eine Betrachtung des Einzelfalls ankommen. Krankheiten, die zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung führen, könnten im Prinzip für eine Behinderung ausreichen."

Schmid macht allerdings auch deutlich, dass es eine geänderte Rechtslage in Bezug auf die Kündigung chronisch Kranker als solche nicht gibt. "Beachtet der Arbeitgeber die von der Rechtsprechung für krankheitsbedingte Kündigungen aufgestellten Voraussetzungen, kann er einem chronisch Kranken nach wie vor kündigen." Allerdings werde er in Zukunft im Einzelfall prüfen müssen, ob die chronische Krankheit als Behinderung im Sinne des AGG angesehen werden könne und die Kündigung unter diesem Gesichtspunkt sachlich gerechtfertigt sei, erklärt Arbeitsrechtler Schmid.

Zwischenzeitlich gab es dezente politische Bestrebungen, das AGG entsprechend zu ändern und chronische Krankheiten ausdrücklich unter seinen Schutz zu stellen. Sie scheiterten jedoch, da der Gesetzgeber durch die aktuellen Urteile offenbar keinen Regelungsbedarf mehr sieht.

"Zum Kämpfen hatte ich keine Kraft"

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes fordert dennoch eine explizite Aufnahme chronischer Krankheiten ins Gesetz. "Das würde der Rechtssicherheit dienen und vermeiden, dass es Entscheidungen nur für einzelne Fällen gibt", sagt Franke. Er hält es für wünschenswert, dass sich mehr Betroffene von den bisherigen Urteilen ermutigen lassen und zur Wehr setzen.

Judith Sommer hat das nicht getan. "Zum Kämpfen hatte ich keine Kraft", sagt sie. Was bleibt, ist nicht nur ein bitterer Nachgeschmack, sondern auch die Ungewissheit um ihre berufliche Zukunft. Sie ist ehrgeizig, möchte weiterkommen, vielleicht einmal Schulleiterin werden. Doch mit der schlechten Beurteilung ist das fraglich. Zumindest eines hat sie inzwischen gelernt: "Ich habe jetzt den Mut, auch mal einen Tag krank zu sein."

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