Chancengleichheit beim Abitur:"Gerechte Abituraufgaben"

Die Bildungsforscher Thomas Sachsenröder und Jörg Eyrainer über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Prüfungen des acht- und neunjährigen Gymnasiums.

Tina Baier

Am heutigen Freitag beginnen die schriftlichen Abiturprüfungen für den letzten Jahrgang des neunstufigen Gymnasiums (G9). Mitte Mai startet dann der erste Jahrgang des achtstufigen Gymnasiums (G8).

Vier Geschwister machen gleichzeitig Abitur

Sie sind Geschwister und bereiten sich alle auf das Abitur vor: Maria, Johann, Josefa und Angelika Prem wohnen auf dem Hennererhof in Schliersee. Ob die Abiturfragen für G8 und G9 vergleichbar sind, wird ihnen ganz sicher auffallen. Denn Maria, 19, und Josefa, 20, zählen zum letzten Abiturjahrgang des neunstufigen Gymnasiums, für den an diesem Freitag die schriftlichen Prüfungen beginnen. Für Johann, 17, stehen im Mai die Prüfungen des G8 an. Und Angelika, 21, legt ihre Reifeprüfung an der Berufsoberschule in Miesbach ab. Gelernt wird gemeinsam - am liebsten im hauseigenen Café.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Abituraufgaben und Lehrpläne für beide Jahrgänge werden am Bayerischen Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) in München entwickelt. Thomas Sachsenröder, Chef des ISB, und Jörg Eyrainer, Leiter der Abteilung Gymnasium, erklären, wie es gelingt, bei den Abiturprüfungen für beide Jahrgänge Chancengleichheit herzustellen.

SZ: Wie schafft man es trotz der Unterschiede zwischen G8 und G9, dass die Schüler beider Jahrgänge im Abitur ähnlich abschneiden?

Sachsenröder: Bei jeder Abschlussprüfung, egal ob sie für das G8, das G9, für die Real- oder für die Mittelschule gestellt wird, müssen die Anforderungen so sein, dass sie auf einem mittleren Niveau liegen. Für das Gymnasium gilt: Das Anforderungsniveau der Abiturprüfungen im G8 orientiert sich am Grundkurs-Abitur der Kollegstufe im G9.

Was ist der Unterschied zwischen einem Grundkurs-Abitur und einem Leistungskurs-Abitur?

Eyrainer: Das Leistungskurs-Niveau erfordert ein tieferes Verständnis des Stoffes. In manchen Fächern setzen die Prüfungsaufgaben in den Leistungskursen des G9 aber auch Wissen voraus, das im G8 gar nicht mehr gelehrt wurde und dann natürlich auch nicht in der Abiturprüfung vorkommt.

Sachsenröder: In einem Leistungskurs-Abitur - etwa in Deutsch - sind die Texte, die die Schüler bearbeiten müssen, komplexer. Die Prüfung dauert auch länger, nämlich 300 Minuten. Das Grundkurs-Abitur in Deutsch dauert 240 Minuten. Das Deutsch-Abitur im achtjährigen Deutsch liegt mit 270 Minuten dazwischen. Hier gibt es aber auch neue Aufgabenstellungen.

Zum Beispiel?

Sachsenröder: In Deutsch ist es jetzt zum Beispiel das materialgestützte Verfassen von Texten. Die Schüler bekommen Informationsmaterial und müssen es für ihre Argumentation oder Stellungnahme verwenden. Natürlich lernen sie vorher im Unterricht, wie man an solche Aufgaben herangeht.

Eyrainer: Sie haben außerdem die Wahlmöglichkeit. Die Schüler des achtjährigen Gymnasiums bekommen in Deutsch fünf Aufgaben, von denen eine zu bearbeiten ist. Drei davon beziehen sich wie bisher auf Drama, Lyrik und Epik. Zwei erfordern neue Schreibformen; beispielsweise müssen die Schüler selbst Stellung beziehen. Denn es wird im späteren Leben immer wieder vorkommen, dass man seine Meinung zu einer bestimmten Sache formulieren muss.

Wie ist es im Fach Mathematik?

Sachsenröder: Da gibt es relativ wenige Unterschiede zwischen einer Prüfung im achtjährigen Gymnasium und dem Grundkursabitur. Auch der Umfang der Aufgaben, die bearbeitet werden müssen, ist vergleichbar. Allerdings haben die Schüler des achtjährigen Gymnasiums 240 Minuten Zeit; im Grundkurs des G9 sind es dagegen nur 180 Minuten. Dadurch wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass im achtjährigen anders als im neunjährigen Gymnasium alle Schüler in Mathematik eine Abiturprüfung ablegen müssen.

Eyrainer: Bei den Fremdsprachen gibt es dagegen wieder relativ große Unterschiede. Das Mündliche und die Kommunikation haben im achtjährigen Gymnasium einen höheren Stellenwert. Außerdem muss jeder Schüler zum Beispiel eine Aufgabe im Hörverstehen lösen. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Schüler des G8 ein zweisprachiges Wörterbuch mit in die Prüfung nehmen dürfen, die des G9 nur ein einsprachiges.

Warum ist das so?

Eyrainer: Es ermöglicht, dass man lexikalisch anspruchsvollere Texte verwenden kann. Allerdings darf das Nachschlagen im Lexikon nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen

Woher weiß man, ob eine Prüfungsaufgabe für die Schüler schwierig oder leicht zu lösen ist?

Sachsenröder: Da spielt die Erfahrung eine große Rolle. Es gibt aber auch bestimmte Kriterien. Ein Text ist zum Beispiel umso schwieriger, je komplexer er ist.

Was macht eine Matheaufgabe schwierig oder leicht?

Sachsenröder: In Mathematik hängt der Schwierigkeitsgrad wesentlich von der Komplexität der Aufgabenstellung ab. Für den Erfolg des Schülers spielt die Zeit, die für die Bearbeitung zur Verfügung steht, eine wichtige Rolle.

Wird bei der Aufgabenstellung auch berücksichtigt, dass die Schüler des G8 ein Jahr jünger sind als die des neunstufigen Gymnasiums?

Eyrainer: Ja. In diesem Alter macht ein Jahr viel aus, besonders was die geistige Reife betrifft. Für manche Texte brauchen die jüngeren Schüler beispielsweise etwas mehr Zeit, um sie zu verstehen. Oder man muss mehr Hilfsmittel anbieten.

Wer denkt sich die Abituraufgaben eigentlich aus?

Sachsenröder: Das Kultusministerium bittet bestimmte Schulen, Vorschläge für Abituraufgaben zu machen. In jedem Fach werden mehrere Vorschläge eingeholt. Diese Vorschläge sind die Arbeitsgrundlage für die Aufgabenkommissionen. Für jedes Fach gibt es eine eigene Kommission. In den meisten Fällen ist ein und dieselbe Kommission sowohl für das achtjährige als auch für das neunjährige Gymnasium zuständig. Es gibt kleine Kommissionen mit vier Mitgliedern und große mit bis zu zwölf. In jeder sitzen Lehrkräfte verschiedener Gymnasien, die viele Jahre Erfahrung haben. Dadurch ist die Praxisnähe sichergestellt. Die Mitglieder der Kommissionen treffen sich bereits ein Dreivierteljahr vor Beginn der Abiturprüfungen zum ersten Mal. Im Laufe mehrerer Sitzungen schmieden sie dann aus den Vorschlägen der Schulen die Abituraufgaben. Die fertigen Aufgaben müssen dann noch vom Kultusministerium genehmigt werden.

Die Fragen werden sicher verwahrt

Wie gelangen die Aufgaben dann an die Schulen?

Eyrainer: Das ist streng geheim. Ich habe in meiner Zeit als Schulleiter jedenfalls einen hohen Aufwand betrieben, um die Prüfungsfragen sicher zu verwahren.

Was ist der wichtigste Unterschied zwischen dem G-9-Abitur und dem G-8-Abitur?

Eyrainer: Im achtjährigen Gymnasium ist der Anteil der anwendungs- und realitätsbezogenen Aufgaben höher. Das Abitur ist kompetenzorientierter; das heißt es geht noch mehr darum, Wissen nicht nur abzufragen, sondern auch anzuwenden.

Wie sieht eine kompetenzorientierte Prüfungsfrage konkret aus?

Sachsenröder. Eine Musteraufgabe für das Abitur in Deutsch lautet zum Beispiel so: "Gemeinsam mit anderen Autoren arbeiten Sie an der Erstellung eines Schülerlexikons zur Literaturgeschichte. Verfassen sie zu diesem Zweck einen informativen Text über das Menschenbild der Klassik." Dazu gibt es drei Materialien, unter anderem einen Text von Herder.

Wissen Sie schon was dieses Jahr im Abitur drankommt?

Sachsenröder: Dazu äußern wir uns nicht. Aber wir wünschen allen Abiturientinnen und Abiturienten viel Erfolg.

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