Bürowahnsinn:Höhenverstellbare Stöcke im Hintern

Google-Zentrale in München, 2016

Arbeiten am höhenverstellbaren Tisch - hier in der Google-Zentrale in München.

(Foto: Catherina Hess)

Sitzen ist das neue Rauchen, heißt es, wer sitzt, stirbt früher. Aber hilft es, wenn Arbeitnehmer die Füße baumeln lassen und Chefs virtuell durchs Büro rollen?

Von Philipp Bovermann

Die Krise der Sitzkultur begann damit, dass die Ersten anfingen, sich öffentlich über die Körperhaltung sitzender Menschen lustig zu machen. Möglicherweise begann alles mit einem T-Shirt-Motiv, das die Evolution des gebückt gehenden Superaffen über dessen allmählich aufrechteren Gang bis zu dessen finaler Erschlaffung nachzeichnet: Der Homo Erectus, der einst aufgerichtete Mensch, hängt mit gekrümmtem Rücken vor einem Computer. Vermutlich pöbelt er gerade in einer Kommentarspalte auf Facebook herum oder spielt ein Ballerspiel.

Dann wurde aus dem Vorurteil knallharte Wissenschaft. Seit etwa zehn Jahren vermelden immer neue Studien, dass der Mensch durch häufiges Sitzen im Büro - unabhängig davon, wie viel Sport er außerhalb der Arbeitszeit treibt - dümmer und dicker werde. Außerdem sterbe er früher, rund 22 Minuten pro versessener Stunde, wie bereits vor einigen Jahren eine Forschergruppe aus Australien herausgefunden hat. Spätestens seitdem lautet das Schlagwort: "Sitzen ist das neue Rauchen."

Sportmediziner haben eine Lösung: Man solle doch lieber stehen bei der Arbeit, da bekomme das Gehirn mehr Sauerstoff. Zwar wurden bereits Zweifel laut, ob es wirklich so viel bringt, eine statische Körperhaltung durch eine andere zu ersetzen, aber da hatten manche Unternehmen, die nicht den Eindruck erwecken wollten, bei ihnen arbeiteten nur Sesselpupser, schon die Steh-Schreibtische bestellt.

An diesen Tischen sitzt der Mitarbeiter nicht mehr, sondern wird beim Stehen von einem "Fitnesshocker" wie zum Beispiel dem "Uplift Motion Stool" unterstützt. Mit seinem abgerundeten Sockel am Fußende zum Herumkippeln sieht er aus wie ein sehr mageres Stehauf-Männchen, auf dessen Kopf man sich setzt.

Füße baumeln lassen - und brainstormen

Das Gegenstück für den Konferenz-Bereich ist der "Stand-up", laut Produktbeschreibung ein "gesundheitsförderndes Bewegungsobjekt", "das Lust auf den spielerischen Umgang mit dem Ernst des Lebens macht" und dazu animiert, "die Hüfte kreisen und die Gedanken fliegen zu lassen". Konkret schiebt man sich ein buntes, joystickartiges Stück Sitzstoff unter das Gesäß und baumelt darauf durch die Brainstorming-Runden. Mitarbeiter schwingen nach allen Richtungen aufeinander zu, um sich gegenseitig in die Unterlagen zu fassen, dann entfernen sie sich wieder voneinander. Eine den Bewegungsradius einschränkende Lehne, deren lichte Höhe früher die Autorität des Chefs ausdrückte, entfällt.

Die Funktion des "Stand-up" erschließt sich erst so richtig in der Sitzgruppe, im Ideal eines vernetzten Büros und Denkens. Feste Sitz-Hierarchien gibt es nicht, so wie manche Unternehmen die fest zugewiesenen Büros gleich ganz abgeschafft haben. Stattdessen wird ausladend gependelt. Man kann sich den "Stand-up", so betont der Hersteller, auch problemlos unter den Arm klemmen und damit an die frische Luft gehen, wo die Vöglein singen. Der dynamische Sitzhocker sieht dann aus wie eine Mischung aus Hinkelstein und Yoga-Matte.

Der Chef steht und geht - virtuell

Auf der anderen Seite der Entwicklung befinden sich die Lounge-Bereiche im zeitgenössischen Arbeitsleben, die heute freilich nicht mehr so heißen, weil der eine oder andere dabei immer noch an billige Cocktail-Bars und die Neunzigerjahre denkt. Hier stehen Sitzsäcke, von der Decke hängen höhlenartige Körbe, die einladen, sich zu verkriechen und wie eine Eule daraus hervor zu spähen. Diese Gemütlichkeitsmaschinen sind keine Stühle mehr, auch keine Sessel. Sie verklären das Sitzen in Richtung des Liegens und umfangen den Mitarbeiter, flüstern ihm beschwichtigend ins Ohr, fast schämt er sich, dass er die Schuhe nicht ausgezogen hat. Wer hier nicht entspannen kann, muss selbst schuld sein.

Damit kommen den Sitzmöbeln gewissermaßen elterliche Funktionen zu: Die "Stand-ups" und "Uplifts", die höhenverstellbaren Stöcke im Hintern des modernen Büroarbeiters, stärken väterlich den Rücken; während die Sitzsäcke und Versink-Landschaften mit mütterlicher Zärtlichkeit daran erinnern, dass der Einzelne Teil einer Familie und nicht etwa eines Produktionszusammenhangs ist.

Zu dieser Familie gehören zunehmend auch die sogenannten Telepräsenz-Roboter. Das sind fernsteuerbare Displays auf Rollen. Mit Telepräsenz-Robotern kann der Chef, vielleicht gerade auf Geschäftsreise in Singapur, mit seinen Mitarbeitern plaudernd durch die Flure flanieren, ohne auf einem Bildschirm zugeschaltet an der Wand zu kleben wie ein Erinnerungsfoto. In diesen Robotern vollendet sich das ästhetische Stehgebot. Ihr Körper besteht gewissermaßen nur noch aus einer stählernen Wirbelsäule.

Das Modell von Cisco beispielsweise, der "iRobot Ava 500", erinnert mit seinem Sockel am Fußende an einen fahrenden Fitnesshocker - nur dass dort, wo sich das bisschen verbliebene Sitzfläche befände, nun senkrecht das Gesicht des Chefs thront. Am Ende des Produktvideos spricht der Cisco-Manager Marcio Macedo über "die Wichtigkeit, da zu sein", um "sich zu unterscheiden". Er sitzt vorne rechts im Bild, im Hintergrund steht wie eine Drohung ein "Ava 500". Sein Display zeigt, stehend, die Roboter-Chefingenieurin im roten Kleid, die zuvor etwas über Sensortechnologie erzählt hat. Über das gegenwärtige Verhältnis von Mann und Frau im Arbeitsleben ist in diesem Bild ziemlich viel gesagt.

Das Sitzen wird zur fernen Idee für Privilegierte

Das Hauptproblem des Telepräsenz-Roboters ist das gleiche wie das des lustig baumelnden "Stand-ups": Es sieht einfach total behämmert aus, wenn Anzugträger auf dem Weg in die Cafeteria mit diesem fahrenden Besen plaudern. Aber warum eigentlich? Der Philosoph Henri Bergson erklärt in seinem Buch "Über das Lachen", das Komische entstünde, wenn eine mechanische Steifheit am Menschen aufblitzt, etwa wenn er stolpert. "Daher müht sich der tragische Dichter, alles zu vermeiden, was unsere Aufmerksamkeit auf die Materialität seines Helden lenken könnte. Sobald die Sorge um den Körper dazukommt, ist ein Einsickern des Komischen zu befürchten. Deshalb trinken und essen die Helden der Tragödie nicht. Ja, wenn möglich, setzen sie sich auch nicht."

Als Beispiel berichtet Bergson eine Episode aus dem Leben Napoleons, der einer unangenehm pathetischen Rede der Königin von Preußen ("Gerechtigkeit, Sire, Gerechtigkeit! Magdeburg!") dadurch den Wind aus den Segeln nahm, dass er sie aufforderte, sie möge sich doch bitte setzen. "Wenn man sitzt, wird es sofort Komödie", so Bergson.

Denkt man das weiter, hat das Changieren zwischen Bedrohlichkeit und Albernheit der Telepräsenz-Roboter also damit zu tun, dass sie gleichzeitig sitzen und stehen. Und tatsächlich ist es ja so: Der Roboter steht, der Boss auf dem Display sitzt. Das Sitzen selbst existiert dann nur noch als grafische Darstellung, als ferne Idee für Privilegierte. Nach einem Arbeitstag in einem solchen Büro freut man sich abends auf eine Folge der neuen Staffel "Game of Thrones". Eine Serie, in der es darum geht, dass alle auf einem "Eisernen Thron" sitzen wollen, das hat etwas merkwürdig Beruhigendes.

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