Süddeutsche Zeitung

Bürokonzepte:Die besten Ideen kommen vor dem Klo

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Das Geheimnis dahinter ist die zufällige Begegnung mit Kollegen. Ein Forscher gestaltet deshalb Toilettenräume, Flure und Treppenhäuser als Arbeitsplätze.

Von Lars Klaaßen

Über den schnellen Wandel der Arbeitswelt diskutieren Experten seit Jahren. Mark Phillips von der Hochschule Coburg dürfte allerdings der erste sein, der sich in diesem Zusammenhang ausgiebig Treppenhäusern, Fluren und Vorräumen von WCs widmet. "Gerade in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt bekommen Menschen beachtliche kreative Impulse, wenn sie zufällig aufeinander treffen", sagt der Professor für Innenarchitektur und experimentellen Raum.

"Die Kreativitätsforschung hat gezeigt, dass die Offenheit gegenüber ungeplantem Input notwendig ist für Innovation." Phillips unterscheidet vier grundsätzliche Raumgruppen: den klassischen Arbeitsplatz, den Kommunikations- und Besprechungsraum, den Infrastrukturraum und den Zwischenraum. Gerade in der letztgenannten Raumgruppe werde das intuitive Entscheidungssystem aktiviert: "Dort finden die zufälligen Begegnungen statt, die wir als Impuls von außen für Kreativität und Innovation benötigen."

Phillips bezeichnet diese Begegnungen als Kollisionen: "Mit Trennwänden als akustischem und optischem Schutz, Stehtischen sowie passender Beleuchtung können an Zwischenräumen Orte für solche konstruktiven Kollisionen geschaffen werden, wo man sich für fünf oder 15 Minuten spontan austauscht." In einem Stuttgarter Bürogebäude hat der Wissenschaftler verschiedene Zwischenräume mit unterschiedlichem Büromobiliar ausgestattet: "Das Feedback war positiv."

Münchner Firma setzt auf Schreibtischrotation

Kommunikation stand auch im Fokus, als die Swiss Re 2013 beschloss, von Unterföhring ins nahe gelegene München umzuziehen. Schon früh war klar, dass am neuen Standort "nonterritorial" gearbeitet werden soll. Mitarbeiter haben keine fest zugeordneten Schreibtische mehr, sondern setzen sich je nach Aufgabe an einen dafür geeigneten Platz, der gerade frei ist. "Der Verzicht auf den eigenen Schreibtisch wird damit kompensiert, dass man für unterschiedliche Aufgabenbereiche eine optimale Arbeitsumgebung zur Verfügung hat", sagt Christoph Kitterle. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter bei der Münchner Firma Congena, die Swiss Re beim neuen Raumkonzept unterstützt hat.

Auf zwei Etagen mit insgesamt 9000 Quadratmetern wurden Orte für verschiedene Arbeitsszenarien gestaltet. Wichtig ist dabei die "Homebase", ein zentraler Platz, der jeder Abteilung ein Gefühl von Zugehörigkeit und Orientierung bietet. An den offen angeordneten Arbeitsplätzen können sich Teammitglieder zusammensetzen und arbeiten.

Auch der "Business Garden" bietet eine Arbeitsumgebung für Teamaufgaben. Die grüne Umgebung soll einen anregenden Kontrast zu den Standardarbeitsplätzen der Homebase bieten. Für konzentrierte Tätigkeiten kann man sich in die "Quiet Area" zurückziehen. Die Arbeitsplätze dort sind voneinander abgeschirmt, telefoniert wird dort nicht.

Wenn die Arbeitsumgebung mehrfach am Tag gewechselt wird, ist neben der (spontanen) Kommunikation vor allem Ruhe gefragt: "Im Schnitt werden Arbeitnehmer alle drei Minuten abgelenkt und alle elf Minuten unterbrochen - bis die Konzentration danach wieder vollkommen hergestellt ist, dauert es 23 Minuten", so ein Ergebnis des "Global Reports 2016" von Steelcase und Ipsos.

Um dem Problem entgegenzuwirken, hat Steelcase die "Brody WorkLounge" entwickelt, eine Mikro-Arbeitsumgebung, die wie ein Kokon Schutz vor visuellen Ablenkungen bietet. Ein integrierter Sensor misst, wie oft und über welche Dauer die Lounge genutzt wird. Dies unterstützt eine effiziente Flächenplanung. Ebenso erkennt der Sensor, ob die WorkLounge besetzt ist und aktiviert ein entsprechendes Lichtsignal. So sehen Kollegen, dass der Nutzer gerade nicht gestört werden möchte. Eine beheizbare Polsterung bietet einen besonderen Komfort und löst damit eines der Hauptprobleme im Großraum - die Temperatur.

Der digitale Wandel der Arbeit manifestiert sich nicht nur in differenzierten Raumkonzepten und Hightech-Möbeln. In Berlin-Kreuzberg hat sich auch eine völlig neue Arbeitsstruktur entwickelt: Die Macher der Blogfabrik bezeichnen ihr Projekt als "neuen Ansatz eines Coworking-Konzeptes". Auf den ersten Blick scheint es sich um einen der vielen Orte zu handeln, an dem sich Freiberufler lediglich temporär einfinden, um dort für sich zu arbeiten.

Die Etage eines alten Fabrikgebäudes erstreckt sich über 550 Quadratmeter, wo 60 Arbeitsplätze untergebracht sind. Hier mietet sich allerdings niemand bloß für ein paar Stunden ein. Wer einen dieser Arbeitsplätze nutzen will, muss sich bewerben. "Meistens kommen die Kreativen zusätzlich über Empfehlungen zu uns", sagt Maria Ebbinghaus, Projektleiterin der Blogfabrik. "Es ist uns wichtig, dass die Chemie stimmt und die Bewerber echte Teamplayer sind." Die Plätze werden mindestens für einen Monat vergeben, meistens länger.

Anders als in üblichen Coworking Spaces wird die Nutzung hier nicht durch eine Mietzahlung abgegolten, sondern durch Content. Wer in der Blogfabrik arbeitet, verpflichtet sich, am gemeinsamen Online-Magazin mitzuwirken. Dieses DailyBreadMag wird von all den Bloggern, Instagramern, Foto- und Videografen erstellt, die sich auf der Etage zusammenfinden. Wer einen festen Arbeitsplatz nutzt, erstellt zwei Beiträge pro Monat. Wer mit seinem Laptop dort Platz nimmt, wo es von Tag zu Tag gerade passt, erstellt einen Beitrag.

Das Magazin widmet sich Themen rund um den digitalen Wandel der Gesellschaft und dokumentiert das Projekt Blogfabrik für die Außenwelt. "Durch diese Zusammenarbeit vernetzen sich die Nutzer der Etage schneller und enger, als es sonst der Fall wäre", sagt Ebbinghaus.

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Quelle:
SZ vom 10.03.2017
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