Bologna-Reform:Die Bachelor-Misere

Bologna soll einen Wechsel zwischen Palermo und Tromsö vereinfachen - doch schon zwischen Augsburg und München scheitert der Austausch. Warum die Reform sinnvolles Studieren unmöglich macht.

R. Stockhammer

In der vergangenen Woche veröffentlichten wir einen Text des Konstanzer Politik- und Verwaltungswissenschaftlers Wolfgang Seibel, in dem dieser den "Bologna-Prozess", also die Umsetzung der Reformen zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis zum Jahr 2010, gegen dessen Kritiker verteidigte: Seibel schrieb, es gehöre unter deutschen Professoren mittlerweile zum guten Ton, über den Reformprozess die Nase zu rümpfen. Er bezeichnete die Hauptkritikpunkte an Bologna - Verschulung des Studiums, ausbleibende Internationalisierung, Einschränkung der Mobilität, fehlender Praxisbezug und unsachgemäße Verwendung von Studiengebühren - als "Mythen" und wirklichkeitsfremd und forderte seine Kollegen auf, die Studienreform endlich als Chance zu begreifen. Ihm antwortet nun Robert Stockhammer, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bologna-Reform: Master of Desaster - oder doch sinnvolles Konzept? Studenten protestieren gegen die Bologna-Reform.

Master of Desaster - oder doch sinnvolles Konzept? Studenten protestieren gegen die Bologna-Reform.

(Foto: Foto: dpa)

Lust an der kreativen Desorientierung

Die ständige Klage über "Bologna" bringt nichts, da hat Wolfgang Seibel recht. Nicht nur Professoren, sondern alle, die es angeht, können und sollten die Pflicht zur Einrichtung neuer Studiengänge dazu nutzen, sich grundlegende Gedanken darüber zu machen, welche Ziele sie verfolgen und welche dieser Ziele man in den neuen Studiengängen möglicherweise sogar besser erreichen kann als in den bisherigen. Dabei sind selbst kleine Veränderungen in Details des Studienplans nicht uninteressant, weil sie oft von der grundsätzlichen Frage danach, was man Studenten eigentlich beibringen kann und will, nicht zu trennen sind.

Deshalb können einen manchmal sogar Vorgaben, die auf den ersten Blick als Zwänge erscheinen, auf neue Gedanken bringen. Oft genug klagen Studenten etwa darüber, dass die Veranstaltungen, die sie besuchen, so gar nichts miteinander zu tun haben; warum also nicht Module einführen, in denen zwei oder mehr Veranstaltungen besser miteinander verzahnt sind? Dies zum Beispiel lässt sich in Bachelor- und Master-Studiengänge (im Folgenden BA und MA, Anm. d. Red.) besser einbauen als in Magister-Studiengänge. Bei aller Lust an der kreativen Desorientierung, die ich mit den verbliebenen Magister-Studenten noch heute teile: Bestimmte BA-Studiengänge haben einzelne Vorteile.

Keine Spielräume

Aber eben nur bestimmte BA-Studiengänge, denn diese sind untereinander weit verschiedener und weit weniger kompatibel als es Magister-Studiengänge je waren. Man kann also auf den Erfahrungen aus bestehenden BA-Studiengängen aufbauen, die Nachteile der einen ausscheiden, die Vorteile der anderen übernehmen. Man kann dabei, nach vielen ausführlichen Diskussionen mit Studenten und Assistenten, zu gut vertretbaren gemeinsamen, den allgemeinen Bologna-Vorgaben angepassten Lösungen kommen.

Das Problem ist nur, dass man diese dann nicht realisieren darf. Ich verstehe nicht, wie Seibel als Verwaltungswissenschaftler von den "Spielräumen der Universitäten und damit der Professoren" schreiben kann: "und damit"? Seibel wird doch sogar theoretisch bekannt sein, was alle aus Erfahrung wissen: dass jeder Akt, der eines bestimmten Verwaltungsaufwandes bedarf, zugleich die Macht der damit beauftragten Stellen erhöht.

Auf der nächsten Seite: Wie Stabsstellen, Rechtsabteilungen und Prüfungsämter ihren Spielraum zur Spielraumverengung nutzen.

Zeichen der Querulanz

Sie huldigen der Drei

Im Falle der BA- und MA-Studiengänge ist diese Macht besonders groß, weil die einzelnen Universitäten die wenigen allgemeinen Vorgaben mit jeweils idiosynkratischen weiteren Vorgaben massiv einschränken. Die Stabsstellen, Rechtsabteilungen und Prüfungsämter nutzen den Spielraum zur Spielraumverengung, "und damit" bleibt den Professoren kein Spielraum mehr. Der bloße Versuch des Fachvertreters, neben studienordnungs-technischen Fragen noch Sachargumente ins Spiel zu bringen, gilt als Zeichen seiner Querulanz.

Was er verwirklichen kann, darüber entscheidet arbiträr die Geographie. Ein Studiengang, der in Rostock, Dortmund oder Augsburg durchsetzbar ist, muss es in Greifswald, Hamburg oder München noch lange nicht sein. Die Verwaltungen der einen Universität halten beispielsweise zweisemestrige Module für einen sinnvollen Strukturierungsvorschlag, die der anderen sehen darin ein Hindernis für einen Studienortwechsel. Die einen wollen pro Seminar nur ECTS-(Leistungs-) Punkte vergeben, die durch vier teilbar sind, die anderen huldigen der drei. Man will ja durch den Reformprozess einen Studienortwechsel zwischen Palermo und Tromsö vereinfachen; zwischen Augsburg und München aber hat noch kein Austausch der Erfahrungen stattgefunden. Von Erfahrungen zu lernen, die an anderen Orten bereits gemacht wurden, gilt manchen offenbar als Zeichen der Schwäche.

Rigides Schema

Zunächst einmal lassen die Verwaltungen die Fachvertreter die komplette Arbeit mehrfach machen, weil sie ihre Vorgaben mehrfach ändern, aber jedes Stadium jeweils für endgültig ausgeben. Inkompetente Verwaltungen sind aber "nur" nervig, kosten die Verwalteten, darunter vor allem die Assistenten, denen diese Arbeit gegen alle vertraglichen Regelungen aufgebürdet wird, "nur" hunderte von Arbeitsstunden. Richtig machtlos werden die Verwalteten erst, wenn die Verwaltungen funktionieren und es ihnen gelingt, allen ein einziges rigides, von allen fachlichen Erwägungen erfolgreich befreites Schema zu oktroyieren.

Genauer veranschaulichen kann ich dies nur an einem eigenen Beispiel. Die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, die ich an der LMU München lehre, ist wohl nicht repräsentativ für das Gesamtangebot einer Hochschule, kann aber vielleicht exemplarisch für dasjenige stehen, was die an einer Universität vermittelbare Bildung von einer reinen Berufsausbildung unterscheidet.

Intelligent und sprachbewusst

Unsere Studenten haben kein klar umrissenes Berufsbild vor Augen; viele unserer Absolventen finden aber durchaus attraktive - wenn auch notorisch unterbezahlte - Stellen. Ihre Arbeitgeber schätzen an Studenten unseres Faches, dass sie gelernt haben, sich mit schwierigen Gegenständen mal geduldig, mal aber auch schnell auseinanderzusetzen, sie auf hohem Reflexionsniveau mündlich darzustellen und zu erörtern sowie über sie intelligent und sprachbewusst zu schreiben. Die Studenten müssen dazu sehr viele Texte in verschiedenen Sprachen lesen, und nur das Wenigste davon lässt sich in einfacher, eindeutig richtiger Form reproduzieren und abfragen.

Auf der nächsten Seite: Arme Studenten: Es darf überhaupt kein Ergebnis mehr bewertet werden, das nicht entweder auf dem Papier nachlesbar ist oder wenigstens in Gegenwart von zwei Prüfern geäußert wird.

Verausgabte Phantasie

Bloße Begleitprodukte von Referaten

Daher muss ein solches Studium in erster Linie darauf ausgerichtet sein, anhand der Inhalte die Formen zu entwickeln; alle Gespräche über Vor- und Nachteile der verschiedensten Studiengänge haben mich in dieser Überzeugung nur bestärkt. Man braucht also vor allem dreierlei: Gut vorbereitete, kontinuierliche Seminardiskussionen, prägnante, zur Auseinandersetzung anregende Referate und Zeit zum Schreiben von Hausarbeiten.

Genau diese drei Voraussetzungen werden von den Vorgaben der LMU unmöglich gemacht. Erstens nämlich sollen die Studierenden zwar zu allen möglichen punktuellen Prüfungen, aber genau dazu nicht verpflichtet werden dürfen, regelmäßig und gut vorbereitet an Seminaren teilzunehmen; man muss ihre Leistung vielmehr auch dann als bestanden werten, wenn sie nur einmal im Seminar erschienen sind, um ihr Thesenpapier einzureichen. Ja: "ihr Thesenpapier einzureichen", denn zweitens darf schon die Tatsache, dass Thesenpapiere ein bloßes Begleitprodukt von Referaten sind, nicht in der Studienordnung stehen, weil überhaupt kein Ergebnis mehr bewertet werden darf, das nicht entweder auf dem Papier nachlesbar ist oder wenigstens in Gegenwart von zwei Prüfern geäußert wird.

Lakonische Auskünfte

Drittens müssen Seminararbeiten, vor allem im Wintersemester, kurz nach Ablauf der Vorlesungszeit abgegeben werden, um die Fristen für die Eingabe der Noten einzuhalten. Als Antwort auf die Bitte, diese Fristen doch noch einmal zu überdenken, erhält man vom zuständigen Prüfungsamt die lakonische Auskunft, es würden halt in Zukunft kaum noch Hausarbeiten geschrieben. Begleitet wird dies mit dem Satz "Das ist doch im Interesse der Studenten", womit vorausgesetzt wird, dass Studenten in erster Linie vom Interesse getrieben sind, termingerecht die jeweils gutgeschriebenen ECTS-Punkte in der elektronischen Datenbank abzurufen.

Niemand kann mir die Frage beantworten, was die Studenten nach diesen Prämissen eigentlich in den fast fünf vorlesungsfreien Monaten machen sollen - und dies in einem Studiengang, von dem immer wieder betont wird, dass das dafür notwendige Arbeitspensum einem 40-Stunden-Job mit nur sechs Wochen Jahresurlaub entspreche.

Verstöße gegen die Studienordnung

Wolfgang Seibel hat Recht, wenn er Phantasie bei der Umsetzung der Ziele von "Bologna" fordert. Aber was, wenn die ganze Phantasie in den zumeist vergeblichen Versuchen verausgabt werden muss, die wichtigsten Voraussetzungen eines sinnvollen Studiums gegen die Vorgaben der eigenen Verwaltung zu retten?

Auch wenn Seibel sich darüber mokiert, dass sich in den vergangenen Wochen viele Hochschullehrer mit ihren demonstrierenden Studenten solidarisiert haben: Ich solidarisiere mich mit denjenigen Studenten, die mit mir einige wesentliche Annahmen darüber teilen, was ein Studium unseres Fachs ausmacht. Dazu gehören beispielsweise intensive Seminardiskussionen, in denen mich, manchmal schon im ersten Semester, Studenten mit Ideen, Fragen oder Einwänden konfrontieren, die ich nicht mit Hinweis auf bestehende Forschung beantworten kann, selbst wenn ich diese ausnahmsweise gut kenne. Dazu gehören Besprechungen von Hausarbeiten, in denen sich die monatelange Auseinandersetzung ihrer Verfasser mit schwierigen literarischen Texten bis hinein in einzelne Sätze niedergeschlagen hat.

Ich muss eine Rechtsschutzversicherung abschließen, denn aus dem Festhalten an diesen Voraussetzungen folgen mehrere Verstöße gegen die demnächst geltende Studienordnung.

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