Bologna-Reform:Das Planungsmonster

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"Handwerkliche Fehler": Die Politik schiebt die Verantwortung für das Uni-Reform-Chaos auf die Professoren und die Hochschulen verfallen in Schockstarre. Doch das wahre Problem ist ein anderes.

Stefan Kühl

Angesichts der heftigen Proteste von Studierenden gegen die Bologna-Reform haben Wissenschaftsministerien, Kultusbehörden und Universitätsleitungen überraschend schnell eine Sprachregelung gefunden: Die Zielrichtung der Hochschulreform sei gut, die Umsetzung jedoch sei mangelhaft. Es habe, so die Bundesbildungsministerin Annette Schavan, bei der Umsetzung der Hochschulreform einfach zu viele "handwerkliche Fehler" gegeben.

"Handwerkliche Fehler" bei der Umsetzung der Bologna-Reform werden eingeräumt. Doch bei wem können sich Studenten beschweren? Ihren Frust tragen sie derzeit auf die Straße. (Foto: Foto: Reuters)

Aber wer soll für diese "handwerklichen Fehler" verantwortlich sein? Auffällig ist, dass weder die Bildungsministerin noch der Vorsitzende des Wissenschaftsrats noch die Wissenschaftspolitiker und Hochschulvertreter, die diese Sprachregelung übernommen haben, bisher die Namen genannt haben, bei denen sich die Studierenden wegen der Unzulänglichkeiten der Reformen beschweren können.

Über das Chaos muss gesprochen werden

Aber man hat eine Vermutung. Wenn die Probleme auf die Umsetzung zurückgeführt werden, dann liegt es nahe, die Verantwortung für den Bologna-Irrsinn bei den Professoren zu suchen, die in den letzten Jahren diese Reform an den Universitäten umgesetzt haben. Der Effekt dieser einsetzenden Personalisierung der Probleme in der Bologna-Reform ist, dass Wissenschaftspolitik, Universitätsleitung und Professorenschaft ungehemmt die nächste Reformwelle lostreten können, ohne dass über die Gründe des gegenwärtigen Chaos gesprochen werden muss.

Der Organisationsforscher Herbert A. Simon hat bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet, dass in Reformprozessen häufig ganz widersprüchliche Anforderungen formuliert werden, ohne dass diese Widersprüchlichkeiten sofort erkennbar sind. Simon fühlte sich bei diesen widersprüchlichen Reformempfehlungen an sich widersprechende Sprichwörter erinnert, die sich in den meisten Kulturkreisen ausgebildet haben. Mit einer gewissen Freude haben Organisationswissenschaftler diesen Sprichwort-Charakter bisher vorrangig bei Reformdebatten in Unternehmen beforscht. Aber die Bologna-Reform hat dazu geführt, dass auch die Universitätspolitik zu einer eindrucksvollen Maschinerie der Produktion gegenteiliger Reformsprichwörter geworden ist.

Zwischen Standards und Freiheit

Man denke nur an die Verve, mit der einerseits postuliert wird, dass Freiheiten im Lernprozess ein Kernbestandteil des Studiums sind, andererseits aber gefordert wird, dass Standards eines Faches vermittelt werden müssen. Gerade bei der Diskussion über die Standards eines Studiums wird das eigene Spezialgebiet als so wichtig eingeschätzt, dass dieses selbstverständlich als verpflichtend für alle Studierenden angesehen wird. Weil dies ja jeder Lehrstuhlvertreter so sieht, ist der Effekt, dass die Studiengänge so mit Präsenz- und Prüfungsanforderungen vollgestopft werden, dass selbst begnadete Vorlesungskünstler ihre Studierenden nur noch mit dem Druck von Multiple-Choice-Klausuren zur Aufmerksamkeit anhalten können.

Im Rahmen des Bologna-Prozesses ist die Sprichwortmaschinerie auch dadurch angeworfen worden, dass die Umstellung auf Bachelor und Master zur Erfindung von Studiengängen Anlass bot. Auf der einen Seite wird nach wie vor die Ausrichtung von Studiengängen an etablierten wissenschaftlichen Disziplinen gelobt. Auf der anderen Seite reicht aber der Verweis auf ein heiß diskutiertes Thema in der Wissenschaft - oder manchmal auch nur in den Massenmedien - aus, um einen neuen Studiengang für Global Governance, Nachhaltiges Wirtschaften oder Innovationsmanagement zu schaffen.

Je nach Gutdünken wird dann in den Konferenzen entweder das Hohelied der wissenschaftlichen Disziplin gesungen oder auf die Notwendigkeit verwiesen, für ein thematisches Spezialgebiet einen eigenständigen, meistens interdisziplinären Studiengang anzubieten. Der Effekt der Bologna-Reform ist deswegen eine Vervielfachung von Studiengängen in wenigen Jahren gewesen.

Lehrplan-Arithmetik

Sicherlich: Diese Produktion gegenteiliger Sprichwörter hat in Universitäten immer schon existiert. Durch die Bologna-Reform wird es jetzt zunehmend schwieriger, die Rationalität bei der Produktion gegenteiliger Sprichwörter - nämlich die Verständigung über die Ausrichtung der Studiengänge - zu mobilisieren. Denn die Planung für neue Studiengänge - und dafür sind letztlich die Politiker verantwortlich - ist komplizierter geworden. Nun bestimmt eine Lehrplan-Arithmetik die Debatten über die Ausrichtung von Studiengängen.

Das Hauptproblem ist, dass Bologna "neue Währungen" eingeführt hat, mit denen Lehrende, Studierende und besonders die Mitarbeiter der häufig personell erheblich aufgestockten Prüfungsämter zukünftig rechnen müssen. Nach der Bologna-Reform belegen Studierende nicht mehr vorrangig einzelne Veranstaltungen, sondern als eine neue Währungseinheit "Module". Jedes einzelne Seminar, jede Vorlesung muss in den Bachelor- und Masterstudiengängen als Teil eines größeren Moduls daherkommen. Passt eine Veranstaltung nicht in das angedachte Modulschema hinein, dann wird sie entweder gestrichen oder krampfhaft mit anderen Veranstaltungen zu einem Modul zusammengelegt.

Gemessene Zeitstunden

Aber damit nicht genug. Zusätzlich zu den Modulen wurde noch eine weitere Währung eingeführt: die Leistungspunkte. Mühsam mussten dabei Lehrende und Studierende lernen, dass diese Leistungspunkte - oder auf europäisch "European Credit Transfer and Accumulation System Credit Points" - keine beschönigende Bezeichnung für Noten sind, sondern dass so Zeitstunden gemessen werden, die ein "durchschnittlicher Student" mit der Vorbereitung eines Seminars, der Abfassung einer Hausarbeit oder der Absolvierung eines Praktikums verbringt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Studenten an Leistungspunkte kommen.

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Anwesenheitsstunden, Leistungspunkte und Module müssen jetzt so miteinander harmonisiert werden, dass Studierende am Ende ihres Studiums im Bachelor genau 5400 Stunden (180 Leistungspunkte) und Studierende im Master genau 3600 Stunden (120 Leistungspunkte) mit ihrem Studium verbracht haben. Wenn man dabei auch noch versucht, unterschiedliche Studiengänge einer Universität zu berücksichtigen, sind die kognitiven Leistungsgrenzen schnell erreicht.

Komplexitätsexplosion im Studium

Die Verrechenbarkeit von Leistungen zwischen unterschiedlichen Universitäten - ursprünglich mal ein Ziel der Bologna-Reform - führt durch die Betrachtung der drei Verrechnungsformen Anwesenheitsstunden, Leistungspunkte und Module endgültig zu einer Komplexitätsexplosion. Dass die Mobilität zwischen den Universitäten - jedenfalls innerhalb eines Studiums - nach der Bologna-Reform abgenommen hat, dürfte niemanden überraschen, der einmal versucht hat, Leistungspunkte und Module zwischen Unis zu verrechnen.

Bei der Studiengangsgestaltung sind besonders die Akkreditierungsbehörden inzwischen in fast jeder Diskussion zum Schreckgespenst eines obersten Wächters über korrekte Leistungspunktberechnung, ordentliche Modularisierung und Austauschbarkeit zwischen Studiengängen geworden. An den Akkreditierungsbehörden, die sich selbst Akkreditierungsagenturen nennen, kann man sicherlich viel aussetzen: die Zufälligkeit, mit der die Gutachter für Studiengänge zusammengestellt werden, die Versuche von Berufspraktikern, als Akkreditierer in wissenschaftliche Studiengänge hinzureden, oder die immer wieder zu beobachtenden Versuche von externen Akkreditierern, willkürlich ihre eigenen Forschungsinteressen in fremde Studiengänge hineinzupressen.

Formalitäten werden wichtiger als Inhalt

Die verheerendste Wirkung der Akkreditierungsagenturen ist jedoch, dass sie zu einer Verlagerung der Diskussion von inhaltlichen Ausrichtungen des Studiengangs auf die formalen Anforderungen des Bologna-Prozesses beigetragen haben. Weist eine Institutsvertreterin darauf hin, dass zu detailliert gestrickte Module die Wahlmöglichkeiten der Studierenden einschränken, dann findet sich sicherlich der Kollege, der zu berichten weiß, dass eine genaue Moduldefinition von der Akkreditierungsagentur gefordert wird.

Wagt ein Mitarbeiter zu behaupten, dass es doch willkürlich sei, ob man ein Seminar mit drei, vier oder fünf Leistungspunkten belegt, findet sich sicherlich eine Professorin, die behauptet, dass gerade die Zurechnung von Leistungspunkten auf die einzelnen Veranstaltungsformen von den Akkreditieren genau geprüft werden wird. Der Verweis auf die anstehende Akkreditierung ist immer mehr zur einer Art "Wild Card" geworden, die von jedem jederzeit gespielt werden kann, um inhaltliche Diskussionen über den Studiengang zu stoppen.

"Nicht schon wieder"

Gerade die Universitäten, Fakultäten und Institute, die früh mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen begonnen haben, befinden sich angesichts des Planungsmonsters Bologna vielfach in einer Art Schockstarre. Jede Anpassung eines Studiengangs, jede Modifikation von Modulen oder jede Initiative zur Gründung eines neuen Masters wird inzwischen von dem mehr oder minder kollektiven Stoßseufzer "Nicht schon wieder" begleitet.

Angesichts der Probleme, die die Umstellung auf Bachelor und Master vielfach produziert hat, ist es in den Gremiensitzungen inzwischen en vogue, ein "Reformmoratorium" zu fordern, weil ja jede Reform nur zu einer immer weiteren Bürokratisierung führen würde. Die gleichen Personen, die über die Effekte der letzten Bologna-Reformen klagen und den gerade neu konzipierten Studiengang in all seinen Unzulänglichkeiten geißeln, sprechen sich gegen eine Reform der Reform aus, weil es ja alles nur noch schlimmer werden würde. Schließlich handelt es sich bei der gleichzeitigen "Klage über den Status quo" und die "erschöpfungsbedingte Ablehnung weiterer Reformen" lediglich um ein weiteres gegensätzliches Sprichwortpaar, das - dank Bologna - nach Gutdünken von der Professorenschaft mobilisiert werden kann.

Der Autor ist Professor für Organisationssoziologie an der Uni Bielefeld.

© SZ vom 03.12.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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