Bildungsforscher Klemm:"Pisa funktioniert nicht wie die Bundesliga"

Bremen ist das Pisa-Schlusslicht: Schüler scheitern schon an Grundschul-Aufgaben. Bildungsforscher Klaus Klemm erklärt das Versagen der Stadt.

J. Bönisch

Klaus Klemm ist einer der erfahrensten Bildungsforscher Deutschlands. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 leitete er 30 Jahre die Arbeitsgruppe Bildungsplanung und Bildungsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Klemm, Mitglied der SPD, gilt als unabhängiger Kopf.

Klaus Klemm

Klaus Klemm: "Wir messen nur die Schüler, nicht aber die Qualität des Unterrichts."

(Foto: Foto: Universität Essen)

sueddeutsche.de: Herr Klemm, wie kann es sein, dass einige Bremer Schüler auf weiterführenden Schulen noch nicht einmal dazu in der Lage sind, Aufgaben auf Grundschulniveau zu lösen?

Klaus Klemm: Das ist in der Tat ein erschreckendes Ergebnis, das man aber differenzieren muss. Die Stadtstaaten haben eine völlig andere Bevölkerungsstruktur. Rechnen Sie etwa in Hamburg die Schüler mit Migrationshintergrund aus der Statistik heraus, erreicht die Stadt das gute Ergebnis von Baden-Württemberg.

sueddeutsche.de: Wir bereinigen also die Statistik, und alles ist in Ordnung?

Klemm: Nein, so möchte ich nicht verstanden werden. Ich plädiere nur dafür, die Daten genau zu betrachten: Sachsen hat mit vier Prozent einen sehr geringen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund, und das erklärt unter anderem das gute Abschneiden des Bundeslandes. In der Konsequenz bedeutet das nicht, Migranten in den Erhebungen zu ignorieren. Im Gegenteil: Wir müssen uns viel besser und intensiver um sie kümmern. Das schlechte Abschneiden von Bremen und Hamburg ist die Quittung dafür, dass wir sie jahrelang vernachlässigt haben. Wir müssen uns mehr auf schwache Schüler konzentrieren.

sueddeutsche.de: Spiegeln die Pisa-Ergebnisse auch den gesellschaftlichen Reichtum wider? Hier der reiche Süden, dort der arme Norden?

Klemm: Zum Teil. Bremen etwa leidet unter einer sehr hohen Arbeitslosenquote. Dort wachsen Kinder in ganz anderen Milieus auf. Unter Erwerbslosigkeit hat Sachsen aber auch zu leiden. Die neuen Länder profitieren jedoch noch von einer alten DDR-Tradition. Dort wurden und werden noch heute mehr Stunden unterrichtet als im Westen. Dieser zusätzliche Unterricht erfolgt außerdem in den Naturwissenschaften. Ob Schüler ein Jahr lang vier Wochenstunden Mathematik lernen oder fünf, macht schon einen gewaltigen Unterschied. Aber ich halte nichts davon, Sachsen jetzt zum Sieger auszurufen. Die Unterschiede zu Bayern sind minimal. Pisa funktioniert nicht wie eine Bundesligatabelle mit einem Spitzenreiter. Wir haben eine Spitzengruppe, nicht nur einen Klassenbesten.

sueddeutsche.de: Bei der letzten Pisa-Studie zählten Sie zu den Kritikern der Untersuchung. Sie haben zum Beispiel belegt, dass das gute Ergebnis Bayerns verzerrt ist, weil die überdurchschnittlich vielen Berufsschüler nicht mitgetestet und so viele Lernschwächere nicht erfasst wurden. Was ist mit den Daten dieser Studie - sind sie Ihrer Meinung nach zuverlässig?

Klemm: Grundsätzlich halte ich Pisa für ein wesentliches Element der Bildungsforschung - allein schon deshalb, weil die Kultusminister durch die Ergebnisse der Studie aufgeschreckt sind und endlich dringend nötige Reformen gewagt haben. Was mich allerdings stört ist, dass wir nur die Schüler messen, nicht aber die Qualität des Unterrichts.

Auf der nächsten Seite: Bekommen wir eine Drei-Fächer-Schule, in der der Umgang mit Lyrik keine Rolle mehr spielt?

"Pisa funktioniert nicht wie die Bundesliga"

sueddeutsche.de: Dazu muss man ja erst einmal wissen, was guter Unterricht ist.

Klemm: Dafür gibt es durchaus Kriterien, auf die sich alle einigen können. Dazu zählt zum Beispiel ein gutes Zeitmanagement. Der Unterricht darf nicht so ablaufen, dass der Lehrer in den ersten zehn Minuten für Ruhe sorgen muss und sich in den letzten zehn bemüht, die Schüler davon abzuhalten, Pizza zu bestellen. Außerdem braucht eine Schulstunde eine gute Unterrichts-Choreographie: Sind für die Schüler ein zentrales Thema und die Zielsetzung der Stunde erkennbar, gibt es eine Zusammenfassung? Bei Pisa haben mehr als 50.000 Schüler teilgenommen. In diesem Rahmen wäre solch eine Qualitätsmessung überhaupt nicht möglich. Außerdem konzentriert sich Pisa nur auf die Lesekompetenz, Mathe und die Naturwissenschaften.

sueddeutsche.de: Sollten die Kinder auch in Geschichte, Kunst oder Sport getestet werden?

Klemm: Nein, wir dürfen nicht immer nur messen, sondern müssen irgendwann auch mal anfangen, Konsequenzen zu ziehen. Ich fürchte aber, dass wir eine Drei-Fächer-Schule bekommen, in der etwa der Umgang mit Lyrik keine Rolle mehr spielt.

sueddeutsche.de: Welche Konsequenzen sollten wir aus den Pisa-Ergebnissen ziehen?

Klemm: Wir müssen uns auf die Sprachförderung bei Migranten konzentrieren, Sozialarbeiter in die Schulen schicken und die Ganztagsschulen ausweiten. Dort bewegen sich leistungsschwache Schüler in einem anregungsreichen Milieu und werden - leider anders als zu Hause - gefördert. Zudem brauchen sie einen Unterricht, der sich stärker am Berufsleben orientiert. Doch all das kostet natürlich Geld und braucht Zeit. Wenn sich die Bildungspolitik heute um Migranten in Kindergärten kümmert, sehen wir die Ergebnisse erst in 15 Jahren.

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