Bildungsforscher im Interview:Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Wer darf aufs Gymnasium? Bayern sortiert mit dem "Grundschulabi", Berlin lost sogar aus. Bildungsforscher Bos über die Mittelschicht mit Eliteanspruch.

J. Bönisch

Wilfried Bos ist Professor für Bildungsforschung und Qualitätssicherung an der Universität Dortmund und leitet das Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS). Er verantwortet die Grundschulstudien Timss (Trends in International Mathematics and Science Study) und Iglu (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung).

Bildungsforscher im Interview: Bildungsforscher Wilfried Bos: "Die Oberschicht schickt ihre Kinder aufs Gymnasium - auch wenn alles dagegenspricht, dass es für den Nachwuchs das Richtige ist."

Bildungsforscher Wilfried Bos: "Die Oberschicht schickt ihre Kinder aufs Gymnasium - auch wenn alles dagegenspricht, dass es für den Nachwuchs das Richtige ist."

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Auf der einen Seite das Gymnasium mit behüteten Akademikerkindern, denen die Zukunft offensteht, auf der anderen Seite eine große Gemeinschaftsschule als "Resterampe" für Migranten und Kinder von Hartz-IV-Empfängern: Herr Bos, sieht so die Zukunft unseres Bildungssystems aus?

Wilfried Bos: Das ist natürlich sehr plakativ, aber im Prinzip wird die Zukunft aus demographischen Gründen vermutlich so aussehen, ja. Wir werden schon in zehn bis 15 Jahren ein Zwei-Säulen-Modell haben mit dem Gymnasium einerseits und einer Gemeinschaftsschule andererseits, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule aufgehen. Allerdings wird diese Gemeinschaftsschule auch zum Abitur führen, aber nicht nach zwölf, sondern erst nach 13 Jahren. Gäbe es dieses Angebot nicht, würde der Ansturm auf das Gymnasium anhalten - und dagegen gäbe es großen Widerstand.

sueddeutsche.de: Nach Schulleistungsuntersuchungen wie Pisa steht doch immer wieder die neunjährige Gemeinschaftsschule für alle Kinder zur Diskussion, wie sie etwa auch unser großes Vorbild, der Pisa-Sieger Finnland hat. Warum ist dieses Modell in Deutschland nicht durchsetzbar?

Bos: Dagegen würde sich ein großer Teil der Eltern dieser behüteten Akademikerkinder, die Sie angesprochen haben, wehren. Wir haben in Deutschland eine schlagkräftige, sehr rührige und kampagnenfähige Mittelschicht, die alles dafür tut, dass das Gymnasium nicht abgeschafft wird. Seien wir doch ehrlich: Sie und ich würden auch alles dafür tun, dass unsere Kinder auf ein Gymnasium gehen und nicht mit den Schmuddelkindern spielen. Und eine Partei, die das Ende des Gymnasiums forderte, würde nicht wiedergewählt. Deshalb wird es dazu nie kommen, so einfach ist das.

sueddeutsche.de: Die Mittelschicht schottet sich ab?

Bos: Ja, und das können wir nicht nur an den Eltern beobachten. Sogar die Kinder haben das schon verinnerlicht. Auf den Pausenhöfen der Grundschulen kann man sehr gut beobachten, wie sich die Schüler aufteilen: Da weigern sich die späteren Gymnasiasten, mit den Hauptschülern zu spielen. Das führt zu einem extremen Druck, der auf den Grundschülern lastet und immer wieder beklagt wird. Die Kinder werden außerordentlichem Stress ausgesetzt - Hauptsache, sie schaffen es aufs Gymnasium.

sueddeutsche.de: Die Anmeldequoten steigen dort seit Jahren, mittlerweile versuchen bis zu 40 Prozent eines Jahrgangs, aufs Gymnasium zu kommen. Doch die Schulen können dem Ansturm gar nicht mehr gerecht werden. In Berlin will man das Problem mit einem umstrittenen Losverfahren lösen.

Bos: In Berlin soll es so laufen: Gibt es mehr Bewerber als Plätze, wird ein Teil davon verlost - Noten spielen keine Rolle. Das hat mit Pädagogik natürlich nichts zu tun.

sueddeutsche.de: Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Lehrer- und Elternempfehlungen beim Übertritt spielen? Wer soll letztendlich entscheiden, ob ein Kind aufs Gymnasium gehen darf oder nicht?

"Eltern entscheiden nicht nach dem Kindeswohl"

Bos: Lehrer sind bei dieser Entscheidung nur ein bisschen kompetenter.

sueddeutsche.de: Ein bisschen? Das klingt nicht so, als würden Sie auf das Sachverständnis der Pädagogen vertrauen.

Bos: Wenn wir über Kinder im Alter von zehn Jahren entscheiden, werden wir immer eine große Fehlerquote haben. Etwa 40 Prozent aller Kinder werden nach der Grundschule auf die für sie nicht optimale Schulform geschickt. Wir haben in Hamburg eine Studie mit 1000 Kindern durchgeführt, die entgegen der Empfehlung dennoch ein Gymnasium besucht haben. 700 von ihnen hatten dort überhaupt keine Probleme. Sie kamen in ein anregungsreiches Lernmilieu und konnten deshalb sehr gut mithalten.

sueddeutsche.de: Also sollte doch der Elternwille den Ausschlag geben?

Bos: Nein, auch Eltern entscheiden nicht immer nach dem Kindeswohl. Die Oberschicht schickt ihre Kinder aufs Gymnasium - auch wenn alles dagegenspricht, dass es für den Nachwuchs das Richtige ist. Und bei der Unterschicht läuft es genau umgekehrt: "Bis Fatima heiratet, kann sie auch in der Schneiderei arbeiten. Da sparen wir uns das Hickhack mit dem Gymnasium." Die Aufteilung der Kinder ist nicht nur Frage von Leistung und Intelligenz, sondern auch eine Frage der Schicht.

sueddeutsche.de: In Bayern gibt es das sogenannte Grundschulabitur: Nur, wer in den Kernfächern einen Notendurchschnitt von mindestens 2,33 erreicht, darf aufs Gymnasium.

Bos: Wenn eben nur Geld da ist, um 30 Prozent einer Alterskohorte auf das Gymnasium zu schicken, wird auf diese Art dafür gesorgt, dass es auch nur 30 Prozent schaffen. Politisch ergibt eine solche Quote also durchaus Sinn.

sueddeutsche.de: Was wäre pädagogisch am sinnvollsten?

Bos: Pädagogisch betrachtet habe ich mit jeglicher Aufteilung ein Problem, denn sie kann nicht fehlerfrei gelingen. Aber damit sind wir wieder beim Anfang unseres Gespräches: Das Gymnasium wird nie abgeschafft werden - deshalb wird auch das Sortieren der Schüler Bestand haben.

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