Bildungsbericht für Deutschland:Das planmäßige Scheitern

Frühe Auslese, geringe Durchlässigkeit, zahlreiche Abbrecher: Zu viele Schüler bleiben auf der Strecke.

Tanjev Schultz

Zahlen sagen manchmal mehr als Worte: 22 - 11 - 40. In diesen Werten steckt das Elend des Bildungswesens. Es sind Zeichen des Scheiterns, es sind die Maße einer schlechten Figur, die deutsche Schulen und Ausbildungsstätten abgeben. 22 Prozent der 15-Jährigen scheitern an einfachsten Leseaufgaben. 11 Prozent der Jungen verlassen die Schule ohne Abschluss. 40 Prozent der Jugendlichen, die eine Berufsausbildung beginnen wollen, landen in Warteschleifen mit unsicherer Zukunft.

Schüler, Schulversagen, Klassenzimmer

Früh ausgesiebt: Durchlässigkeit zwischen den Schularten gibt es in Deutschland nur in einer Richtung: abwärts.

(Foto: Foto: photodisc)

Die Zahlen seien "sehr beunruhigend", sagt Martin Baethge vom Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen; "bedrohlich" nennt sie sein Kollege Hermann Avenarius vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Beide gehören zu einem Team von Wissenschaftlern, das im Auftrag von Bund und Ländern erstmals einen Bildungsbericht verfasst hat.

Der Bericht, den die Kultusminister am Freitag verabschiedet haben, stellt Daten aus anderen Studien zusammen; so stammt die Zahl der leseschwachen Schüler aus der Pisa-Untersuchung. Er enthält aber auch neue Berechnungen und bietet einen Überblick über alle Bildungsstufen von den Kindergärten bis zur Weiterbildung der Erwachsenen. Die Forscher beschreiben die Daten nüchtern, Wertungen und Empfehlungen gehörten nicht zu ihrem Auftrag. In ihren Analysen steckt viel Detailwissen, es zeigen sich aber auch allgemeine Trends und Probleme - und sogar Hoffnungsschimmer.

Im Bildungssystem gibt es viele Übergänge - so wird Bildung oft zum Hindernislauf.

Die Autoren des Berichts sprechen neutral von "Richtungsentscheidungen", Kritiker nennen es "Aussieben". In den meisten Bundesländern werden Schüler nach der vierten Klasse auf unterschiedliche Schulformen verteilt, dabei schaffen es Einwandererkinder und Schüler aus unteren sozialen Schichten selbst bei gleich guten Leistungen seltener auf ein Gymnasium. Die Durchlässigkeit zwischen den Schularten geht bisher vor allem in eine Richtung: abwärts. An Realschulen und Gymnasien liegt das Verhältnis von Auf- und Abstiegen bei 1 : 11. In den neuen Bundesländern sind die Wechsel ausgewogener als im Westen.

Kompliziert wird es, wenn Kinder in ein anderes Bundesland umziehen, denn die Schulen, Lehrpläne und Leistungsanforderungen unterscheiden sich stark. Schwierige Übergänge gibt es auch vor und nach der Schulzeit. Nicht alle besuchen einen Kindergarten - gerade Kinder aus ärmeren Familien bleiben eher zu Hause. Und nach Schule oder Studium scheitern viele beim Einstieg ins Berufsleben.

Das System der Ausbildung ist in einer tiefen Krise - untere Schulabschlüsse werden entwertet.

Seit Jahren behaupten Politiker, das duale Ausbildungssystem sei leistungsfähig. Das erinnert an den Satz "Die Rente ist sicher". Wenn die Krise offensichtlich ist, werden solche Sätze zur Satire.

Zwischen 1995 und 2005 hat sich die Zahl der Jugendlichen, die in einem beruflichen "Übergangssystem" stecken , um 43 Prozent erhöht, schreiben die Bildungsforscher. Das bedeutet: Heute befinden sich fast genauso viele Jugendliche in einer "Warteschleife" wie in einer regulären Ausbildung.

Bei Absolventen mit Hauptschulabschlüssen sind es sogar mehr als die Hälfte. In dem Bericht heißt es: "Man muss befürchten, dass je länger die Unsicherheit anhält, Jugendliche an Ausbildungsmotivation verlieren und resignieren."

Von der Ausweitung der Bildung profitieren vor allem Frauen - Jugendliche aus armen Familien sind weiter stark benachteiligt.

In den vergangenen Jahrzehnten haben immer mehr Jugendliche höhere Abschlüsse erworben. Vor allem Frauen haben aufgeholt, sie finden sich heute in gleicher oder größerer Zahl an Gymnasien und Hochschulen wie die Männer. Doch Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten haben noch immer deutlich geringere Chancen. Dies zeigt sich in allen Bildungsphasen: beim Besuch eines Kindergartens, der Wahrscheinlichkeit, Abitur zu machen oder an Kursen der Weiterbildung teilzunehmen.

Das planmäßige Scheitern

"Die einen häufen Bildung an, die anderen fallen raus", sagt Eckhard Klieme, einer der Autoren des Bildungsberichts. Einige sammeln Zeugnisse und Diplome, andere sammeln Niederlagen. Die einen besuchen neuerdings schon während der Schulzeit Seminare an der Uni, die anderen schwänzen und verabschieden sich dauerhaft aus dem Klassenzimmer.

Die Zahl der Abbrecher ist hoch - neue Bildungswege bieten aber eine "zweite Chance" .

Immer wichtiger werde eine "zweite Chance", heißt es in der Studie. Zunehmend erwerben Schüler in beruflichen Schulen die Hochschulreife, in Baden-Württemberg hat jeder dritte seine Studienberechtigung auf diesem Weg geschafft. Diese "Entkopplung von Schularten und Abschlüssen" bildet ein Gegengewicht zur ansonsten geringen Durchlässigkeit im deutschen Schulsystem.

Eine hohe Zahl an Abbrechern gibt es nicht nur in den Schulen, sondern auch in Ausbildungsbetrieben und Hochschulen. Fast jeder Vierte bricht sein Universitätsstudium ab. Neben fehlender Motivation nennen Abbrecher besonders oft "finanzielle Probleme" als Grund.

Soziale Probleme konzentrieren sich in den Hauptschulen - hier bleiben die Bildungsverlierer unter sich.

Die Schulen schaffen es nicht, soziale Grenzen zu überwinden. Paul Kaestner, Beamter im preußische Kultusministerium, schrieb in den zwanziger Jahren, es werde in den kommenden Jahren eine Aufgabe sein, die Volksschulen "aus ihrer immer noch spürbar verbliebenen Isolierung als Elemetar- und Armenschule zu befreien". Die Aufgabe besteht fort. Allen Beispielen guter Schulen zum Trotz: Die Hauptschule ist eine Elementar- und Armenschule geblieben. Der Bildungsbericht spricht von einem "Übergewicht von Schülern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus". Besonders betroffen sind Einwandererkinder: Von ihnen besucht jeder Vierte eine Schule, in der Migranten zugleich die Mehrheit der Schüler stellen. Bei deutschen Jugendlichen ist es nur jeder Zwanzigste.

Einwandererkinder haben es doppelt schwer.

Die Wissenschaftler nutzen erstmals Daten des Mikrozensus 2005. Dort wird nicht nur die Staatsbürgerschaft erfasst, sondern auch der Geburtsort von Eltern und Großeltern. So lässt sich der Anteil der Einwandererkinder berechnen: 27 Prozent in der Gruppe der unter 25-Jährigen sind (Enkel-)Kinder von Migranten. Sie stehen auf allen Bildungsstufen schlechter da. Fast jeder Zweite junge Türke besucht eine Hauptschule, nur jeder Achte ein Gymnasium.

Selbst bei guten Leistungen haben sie es schwer: Sie bekommen seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium und seltener eine Lehrstelle - auch wenn sie genauso gute Abschlüsse haben wie Deutsche. Dafür ist die Studierquote von Einwandererkindern, die die Hochschulreife geschafft haben, höher. Wer es so weit gebracht hat, will es wissen und geht auch zur Uni.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: