Bildung und Armut:"Ich hatte auch Probleme mit Gewalt und alles"

Björn hat 15 Geschwister, in der Familie ist jeder arbeitslos. Oft ist er der Einzige, der morgens aufsteht. Ein Sommercamp soll ihn vor Hartz IV bewahren.

A. Slavik

Ein Buch zu lesen in der Freizeit - für viele Kinder ist das Spaß und Ablenkung. Für die Schüler der Leuphana Sommerakademie ist hingegen jede einzelne Seite ein großer Kampf. Denn viele von ihnen können nicht richtig lesen - obwohl sie alle in Deutschland zur Schule gehen.

Jugendgewalt, dpa

Gewalt und Perspektivlosigkeit: Die Kinder in der Sommerakademie sollen Wege aus der Armut kennen lernen.

(Foto: Foto: dpa)

Knapp 60 Jugendliche wohnen derzeit im Jugendheim "Haus Berlin", einem altmodischen Holzbau im 5000-Einwohner-Dorf Braunlage in Niedersachsen. Dort riecht es nach Turnschuhen, Kantinenessen und ein bisschen nach enttäuschten Hoffnungen. Die Kinder hier sind Hauptschüler, die den Abschluss nicht schaffen werden, wenn sich nicht etwas ändert. Junge Menschen, für die die Chance auf ein selbständiges Leben vielleicht schon vorbei ist, bevor sie überhaupt erwachsen sind. Deshalb quälen sie sich jetzt durch einen Roman, Wort für Wort und Zeile für Zeile.

Überraschender Optimismus

Björn ist 16, über seine Schwierigkeiten mit dem Lesen spricht er nicht. Dafür erzählt er, dass er Maurer werden will, oder Fliesenleger oder Straßenbauer. Björns blondes Haar ist kurz geschoren, er trägt ein oranges T-Shirt, das ihm zwei Nummern zu groß ist. Sorgen um seine Zukunft macht sich Björn nicht, sagt er. Er sei sogar "fast sicher", dass er bald einen Ausbildungsplatz finden werde. Ein überraschender Optimismus, denn in den vergangenen sechs Monaten war Björn kein einziges Mal beim Unterricht. "Ich hatte auch Probleme mit Gewalt und alles und dann bin ich nicht mehr hingegangen." Björn hat 15 Geschwister, die meisten sind schon ausgezogen und lassen sich seither kaum mehr zu Hause blicken. Dass Björn irgendwann einfach nicht mehr zur Schule ging, haben seine Eltern trotzdem nicht bemerkt. "Erst als die Schule dann angerufen hat."

Ungewöhnlich ist das nicht. Viele der Schüler an der Leuphana Sommerakademie kommen aus Familien, die schon seit Generationen arbeitslos sind. Manchmal sind die Kinder die Einzigen, die morgens überhaupt aufstehen. Ob sie dann zur Schule gehen oder in den Park, so wie Björn, bekommen die Verwandten oft gar nicht mit. Vielleicht interessiert es sie auch nicht, weil von einer festen Arbeitsstelle in diesen Familien nicht mal mehr geträumt wird.

Schulstunden für soziales Verhalten

Der Leiter des Sommercamps, der Psychologie-Professor Kurt Czerwenka, will deshalb nicht nur die Fähigkeiten der Schüler in Mathematik, Deutsch und Englisch verbessern, sondern sie "innerlich stabilisieren". Nur so könnten sie überhaupt eine Zukunftsperspektive entwickeln, sagt Czerwenka. An der Sommerakademie wird nach den Unterrichtseinheiten am Vormittag also auch soziales Verhalten geübt, Sport gemacht und ein Musical einstudiert. Dadurch sollen die Jugendlichen Selbstbewusstsein bekommen und lernen, Konflikte auszutragen, ohne einander zu schlagen.

In einem holzgetäfelten Zimmer unter dem Dach des Jugendheims laufen die Proben der Schauspielgruppe. Knapp ein Dutzend Jugendlicher sitzt in Textbücher vertieft um den Tisch, nur einer hockt auf einem Stuhl gut zwei Meter entfernt. Das ist Max. Er trägt ein rosafarbenes Poloshirt, Jeans und rote Nikes, er ist merklich dicker als die anderen. Während am Tisch der Text gelesen wird, starrt Max teilnahmslos aus dem Fenster. "Wenn ich nach Hause komme, gibt's erstmal Prügel von meinem Vater", liest eines der Mädchen vor. Und weiter: "Wenn er was getrunken hat, braucht er keinen Grund." Irgendwann wäre Max dran, er soll sagen "Hier hast du den Eimer und den Lappen, viel Spaß beim Putzen". Aber Max protestiert, niemand habe ihm das vorher gesagt, und überhaupt habe er da keine Lust drauf. Eines der Mädchen sagt schließlich: "Max, wir brauchen dich, du bist doch der Hausmeister." Max nimmt das Textbuch und spult seinen Satz ab. Dann starrt er wieder aus dem Fenster.

Auf der nächsten Seite: Was der Mangel an Aufmerksamkeit, den die Jugendlichen erfahren haben, bewirkt.

"Ich hatte auch Probleme mit Gewalt und alles"

Breakdance wie in New York

Zwei Stockwerke tiefer bei den Tänzern läuft es besser, hier machen zumindest alle mit. Sandra Witt, 33, steht auf dem Fensterbrett und brüllt: "Wenn die in New York auf der Straße Breakdance machen, stehen sie aber viel enger zusammen!" Witt arbeitet normalerweise als Backgroundtänzerin bei großen Musikveranstaltungen wie "The Dome", wo Madonna oder Justin Timberlake auftreten. Jetzt läuft sie durch die Turnhalle im 5000-Einwohner-Ort Braunlage und verschiebt die Jugendlichen wie Schachfiguren: "Ihr müsst viel enger zusammenbleiben." Einige der Jungs sind gut zwei Köpfe größer als sie, trotzdem gibt es keinerlei Proteste - auch nicht, als sie die Eröffnungsszene immer und immer wiederholen lässt.

Ganz hinten rechts tanzt ein molliges Mädchen in einem weißen Trainingsanzug: Steffi, 15 Jahre alt und bei der Drehung immer einen halben Takt zu früh dran. Sie ist schon ziemlich verschwitzt, trotzdem hüpft sie während der Unterbrechungen zwischen den Szenen unruhig auf und ab und klatscht in die Hände.

Blutige Nase im Vorstellungsgespräch

In der Pause erzählt sie, dass sie Erzieherin werden will, für den benötigten Hauptschulabschluss aber in Mathe und Englisch dringend besser werden müsse. "Gerade bin ich in beiden auf fünf." Aber Steffi kommt immer gut mit Menschen aus und mit Kindern auch, wie sie sagt, und das unterscheidet sie von vielen anderen in diesem Sommercamp.

Denn der Mangel an Aufmerksamkeit, den die meisten dieser Jugendlichen erfahren haben, hat nicht nur Lücken bei ihren intellektuellen Fähigkeiten hinterlassen. "Oft sind ihnen die einfachsten Grundregeln der Höflichkeit gar nicht bekannt", sagt Jasmin Döhling-Wölm. Sie coacht sonst karrierebewusste Erwachsene, vor ein paar Stunden erklärte sie den Schülern, dass sie einander künftig die Tür aufhalten sollen. Dem Chef beim Vorstellungsgespräch eine blutige Nase zu verpassen, steigert die Chance auf einen Job schließlich nicht. "Die werden aber nicht nur höflicher, sondern dadurch auch viel selbstsicherer", sagt Döhling-Wölm - und das sei angesichts der Lage dieser Kinder gar nicht so einfach. "Die wissen genau, wie schlecht ihre Chancen sind und dass es richtig eng wird."

Jedes Kind kostet die Allgemeinheit

Finanziert wird das Programm auch von der Bundesagentur für Arbeit (BA). 120.000 Euro Steuergeld steckt sie in das Leuphana-Projekt - obwohl die Schüler eigentlich gar nicht zu ihrer Klientel gehören. "Wenn sie den Hauptschulabschluss nicht schaffen, ist es aber beinahe sicher, dass sie unsere Klienten werden", sagt BA-Sprecher John-Philip Hammersen. Wenn die Kinder den Einstieg in die Arbeitswelt ihr Leben lang nicht packen sollten, kostet jeder von ihnen die Allgemeinheit etwa 500.000 Euro, rechnet man bei der BA. Die Summe sei also auch aus Sicht der Steuerzahler gut investiert.

Im Kampf gegen den Sturz in Hartz IV wird den Jugendlichen einiges abverlangt: Unterricht, Verhaltenstraining, Sport, Musical, Schnupperpraktikum und gesundes Essen - das Sommercamp in Braunlage ist straff organisiert. Die "nötigen festen Strukturen" nennt Projektleiter Czerwenka das. "Anstrengend" sei es, sagt Björn. Aber immerhin werde nachmittags oft Fußball gespielt. "Das kann ich gut. Ich könnte auch Profi werden."

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