Bildung in Deutschland:Klasse Kindheit

Deutschland, Drei-Klassen-Land: Die Jugendlichen mit den schlechtesten Chancen bräuchten die beste Förderung. Aber die Realität sieht anders aus.

Felix Berth

In einer fernen Vergangenheit, als die Bahn noch "Deutsche Bundesbahn" hieß, traf das Unternehmen eine Entscheidung, die wunderbar zur damaligen Zeit passte. Im Jahr 1956 schaffte die Bundesbahn in ihren Zügen die Abteile der dritten Klasse ab. Die Republik, die sich nicht als Klassengesellschaft sehen wollte, ließ niemanden mehr auf harten, billigen Holzbänken reisen. Es war ein Symbol: Die Unterschiede zwischen "oben" und "unten" sollten nivelliert werden; alle würden es ein bisschen besser haben. Die dritte Klasse, die die sozialen Unterschiede so stark betont hatte, verschwand. Und niemand wunderte sich.

Solche Entscheidungen und Entwicklungen gab es in der jungen Demokratie häufig. Das Grundgefühl der Gesellschaft war optimistisch: Die Unterschicht, die manche damals noch "Arbeiterklasse" nannten, konnte den Aufstieg meistern; niemand wollte die Arbeiter weiterhin in die dritte Klasse der Eisenbahn abschieben. Am stärksten war der Optimismus in den siebziger Jahren: "Bildung für alle" hieß damals ein großes Ziel.

Ein paar Jahrzehnte später hat sich das Land verwandelt. Kinder und Jugendliche erleben, dass sich Deutschland zu einem Drei-Klassen-Land zurückentwickelt. Das obere Drittel von ihnen erlebt eine luxuriöse Kindheit; die Eltern aus dieser Schicht sind in der Lage, die passenden Bildungs-Bausteine zu kombinieren. Sie wählen für ihre Söhne und Töchter vielleicht eine Privatschule oder ein Gymnasium mit exzellentem Ruf, sie ermutigen zum Lateinlernen und zum Schüleraustausch nach Kanada. Eine klasse Kindheit, zumindest was Chancen und Möglichkeiten angeht.

Abmühen um mitzuhalten

Die Kinder des mittleren Drittels stellen fest, dass sich ihre Eltern abmühen, um mitzuhalten. Oft reichen die Ressourcen an Bildung und Kapital nicht, um dem eigenen Nachwuchs den erwünschten Karrierestart zu ermöglichen. Dann dominieren die Sorgen: Tun wir genug für unseren Sohn? Können wir uns vielleicht doch eine bessere Schule leisten? Und wer paukt mit der Tochter die Lateinvokabeln?

Schließlich, ganz unten, die Kinder der dritten Klasse. Sie sind die Abgehängten, die Chancenlosen. Sie leben in Berlin-Neukölln, im Münchner Hasenbergl und in den vielen anderen Stadtteilen, die als "schwierig" gelten. Ihre Eltern beschäftigen sich selten damit, welcher Kindergarten und welche Schule am besten sein könnten. Lehrer machen ihnen Angst, und Nachhilfe ist teuer.

Kinder aus diesen Familien können froh sein, wenn sie einen Schulabschluss schaffen - doch selbst dann ist der Einstieg in die Arbeitswelt oft unendlich mühsam. Aufstieg? Karriere? Teilhabe am Wohlstand? Das läuft oft nur über eine Art verzweifelten Konsum: Ich habe keine Chance, aber immerhin ein neues Handy.

Die Realität ist nicht besser als das Klischee

Natürlich kann man einwenden, das sei arg simpel beschrieben; gelegentlich würden Kids aus dem Problemghetto doch den Sprung nach draußen, nach oben schaffen. Doch leider ist die Realität nicht besser als das Klischee: Sozialwissenschaftler stellen immer wieder fest, wie undurchlässig die Grenzen geworden sind (und wie um diese Feststellungen mit dem passenden Symbol zu versehen, kehrt derzeit die dritte Klasse in den Zügen zurück: Die Österreichische Bahn installiert im schnellen Railjet seit kurzem Abteile der ersten und zweiten Klasse sowie "Premium"Sitze, die noch nobler sind. Der Zug fährt manchmal schon auf deutschen Gleisen).

Exklusive Angelegenheit für Akademikerfamilien

Solche Grenzziehungen schließen die unterste Klasse aus. Und wer einmal mit Achtklässlern an einer Hauptschule über ihre Zukunft spricht, begegnet der Resignation in vielen Varianten. Da träumt Oktay von einer Lehre als Schuhverkäufer und ist gleichzeitig sicher, dass ihn kein Kaufhaus anstellen wird, weil er so schlecht Deutsch spricht. Jessica hofft, dass sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin schafft und irgendwann Chefin einer Kita wird - doch ahnt sie bereits, dass sie früh Kinder kriegen und aus dem Beruf aussteigen wird.

Jedes Schicksal eines gescheiterten Jugendlichen ist unerträglich

Die Bundesrepublik muss sich für das abgehängte Drittel der jungen Generation etwas einfallen lassen. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Studium immer stärker zur exklusiven Angelegenheit für Akademikerfamilien entwickelt: Söhne und Töchter gehen zur Uni, wenn ihre Väter und Mütter das auch schon taten. Doch dieses Ausschlussprinzip ist riskant: Ökonomisch, weil eine Wissensgesellschaft wie die deutsche ausreichend kompetenten Nachwuchs braucht. Politisch, weil die Ausgegrenzten irgendwann rebellieren wie in Frankreich. Und menschlich, weil jedes Schicksal eines gescheiterten Jugendlichen unerträglich ist: Alle Kinder in Deutschland brauchen eine Chance, die sich nicht erst auftut, wenn ihre Eltern ausreichend Geld oder Bildung besitzen.

Wer gegensteuern will, muss früh beginnen - nicht erst gegen Ende der Schulzeit, sondern noch vor ihrem Start. Eine beeindruckende Untersuchung aus den USA demonstriert seit den sechziger Jahren, was frühe Bildung bewirken kann: Beim Perry Preschool Project wurden dreijährige Kinder aus ärmsten und schwierigsten Familien auf zwei Gruppen verteilt. Eine Hälfte von ihnen ging zwei Jahre lang in einen guten Kindergarten, der auch die - meist alleinerziehenden - jungen Mütter unterstützte; die andere Hälfte der Kinder lief als Kontrollgruppe nebenher.

Das alles wegen ein bisschen Kindergarten?

Jahrzehntelang verglichen Forscher beide Gruppen; vor einiger Zeit veröffentlichten sie eine Bilanz für die inzwischen Vierzigjährigen: Wer in der Kita-Gruppe war, lernte später in der Schule mehr, machte bessere Abschlüsse, verdient heute mehr Geld und ist seltener kriminell. Die Effekte sind so gigantisch, dass man beim ersten Lesen zweifelt: Das alles wegen ein bisschen Kindergarten? Doch sogar der US-Ökonom und Wirtschafts-Nobelpreisträger James Heckman hat das Programm überprüft - er reist inzwischen herum und wirbt für frühe Bildung. Daraus lässt sich für die Bundesrepublik ein Merksatz ableiten: Kinder mit den schlechtesten Chancen brauchen die beste Unterstützung.

Doch was einfach klingt, ist schwer umzusetzen. Denn diese Idee bedroht Besitzstände. Spätestens, wenn die Kita im armen Neukölln deutlich mehr Erzieherinnen bekommt als eine im vornehmen Charlottenburg, rebellieren die Berliner Eltern der Mittel- und Oberschicht. Sie werden "Chancengleichheit" für alle Kinder verlangen und politischen Druck machen, denn gerade diese Eltern wissen, wie man Bürgerinitiativen gründet und Kommunalpolitiker beeinflusst. Doch bei diesem Thema lohnt der Streit. Denn die Grenzen im Drei-Klassen-Deutschland müssen wieder durchlässiger werden.

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