Süddeutsche Zeitung

Bewerbung:Wie viele Lügen sind im Lebenslauf erlaubt?

Personaler erzählen, wie sie Schwindeleien und Lücken in der Vita erkennen und wann sie Konsequenzen ziehen.

Von Viola Schenz

Nirgends wird so viel gelogen wie bei Beerdigungen und auf Hochzeiten. So lautet jedenfalls eine gängige Redensart. Man könnte ergänzen: und bei Bewerbungen. Knapp drei Viertel der Führungskräfte in Deutschland haben nämlich schon einmal einen Bewerber aussortiert, weil falsche Angaben im Lebenslauf aufgeflogen waren. Das zeigt eine Studie unter 500 Managern im Auftrag des Personaldienstleisters Robert Half. Im europäischen Vergleich ist das ein Spitzenwert - die Deutschen scheinen besonders streng mit Schummeleien umzugehen. Am häufigsten fliegen falsche Angaben über fachliche Kompetenzen auf, gefolgt von solchen über die Berufserfahrung und über Sprachkenntnisse.

Da es beim Bewerben ja irgendwie um die perfekte Kandidatur geht, mag ein wenig Politur in der Natur der Sache liegen. Aus den zwei Monaten Phuket wird eben eine "berufliche Auslandsstation", das arbeitslose Jahr mutiert zur "Gründung eines Start-ups", der Job als Werkstudent in den Semesterferien zur "vorübergehenden Tätigkeit als Teamleiter". Wer wird schon wissen wollen, dass das Team lediglich aus einem Praktikanten bestand?

Patrick Jung verantwortet die Personalabteilung beim Hamburger IT-Unternehmen Neusoft Technology Solutions. Der 42-Jährige kennt sie alle, die großen, die kleinen, die mittleren Lügen: "Man kann davon ausgehen, dass in jedem Vorstellungsgespräch gelogen wird. Man greift eben zu kleinen Schwindeleien, weil man sich gut zu verkaufen versucht." Bewerber beschönigten, was sie können, was sie nicht können oder wovon sie begeistert sind. Man müsse aber zwischen vier verschiedenen Typen von Lügen unterscheiden, sagt Jung: Zwischen irrelevanten Schwindeleien wie verschwiegenen Tattoos oder erfundenen Hobbys, taktischen Lügen ("Ich wollte schon immer in Ihrer Firma arbeiten", "Dienstreisen oder Überstunden sind kein Problem"), erlaubten Lügen ("Das Thema Kinder ist für mich keines mehr") und elementarem Betrug (gefälschte Zeugnisse oder Zertifikate).

Besonders bei den Fähigkeiten und Interessen hat man leichtes Spiel, denn die lassen sich nicht quantitativ erfassen, so die Annahme. Man erklärt sich kurzerhand zu "ausgesprochen teamfähig", oder zum Hobby-Fußballer (Fitnessfaktor!), auch wenn man seit der Mittelstufe kein Spielfeld mehr betreten hat. Und natürlich ist man "sozial hochkompetent", denn wer wird das schon vor Ort überprüfen? Und gibt es nicht genug Promis, die es gerade mit Lügen weit nach oben schafften?

CSU-Hoffnungsträger Karl-Theodor zu Guttenberg hatte sich bekanntlich nicht nur seine Doktorarbeit zusammenkopiert, sondern auch längere Praktika in Frankfurt und New York zu "beruflichen Stationen" aufgehübscht. Petra Hinz, die von 2005 bis 2016 für die SPD im Bundestag saß, hatte maßgebliche Teile ihres Lebenslaufs erfunden, inklusive Abitur, Jurastudium, Staatsexamen und Arbeit als Juristin. Italiens neuer Premierminister Guiseppe Conte hat seinen akademischen Lebenslauf mit Aufenthalten an renommierten Universitäten angereichert, obwohl er dort lediglich sein Englisch aufpolierte. Und wie man sich als Hochstapler zum Flugkapitän hochschummelt, hat Leonardo DiCaprio in dem Film "Catch Me if You Can", der auf einer wahren Geschichte beruht, grandios veranschaulicht.

Das Positive herausschälen, Stärken, relevante Erfahrungen, Verdienste, Tätigkeiten betonen - genau darauf kommt es schließlich an im Vorstellungsgespräch. Wie praktisch, dass im Zeitalter von Facebook und Instagram die halbe Welt den ganzen Tag nichts anderes zu tun scheint, als sich in aufgemotzter Selbstdarstellung zu üben. Mit der Lebenskosmetik geht die Lebenslaufkosmetik einher.

Und mal ehrlich: Auch die Arbeitgeber, seien es Unternehmen oder Organisationen, sind längst Eigen-PR-Profis. "Es herrscht hier sicherlich Waffengleichheit", sagt Personalchef Jung. Firmenprofile und Stellenausschreibungen malen eine einzig heile Konzernwelt: "Führende Lösungen für zahlreiche Branchen", "Weltoffenheit eines global agierenden Konzerns", "Nachhaltigkeit eines der Unternehmensziele" oder "tiefgehendes Know-how bei der Beurteilung von innovativen Geschäftsmodellen".

Bei den Anforderungen klingt es ähnlich floskelhaft rosig: Fast überall wird von Bewerbern "Teamfähigkeit" erwartet, "Eigeninitiative", "sicheres, sympathisches Auftreten, auch unter Belastung", "kommunikatives Talent". Nicht verwunderlich also, wenn Kandidaten ihren Lebenslauf dem Firmenprofil entsprechend frisieren. Konformität ist oft wichtiger, als man denkt, das muss auch Jung zugeben. "Führungskräfte wollen ja immer Leute, die so sind wie sie, aber das ist selten gut. Reibung und ein anderer Geist sind da viel besser, und es ist meine Aufgabe, darauf zu achten, Diversität zu schaffen."

Lassen sich Betrüger erkennen? "Es gibt natürlich Verdachtsmomente", sagt Jung. "Wenn der Lebenslauf etwas anderes suggeriert als das, was der Kandidat von sich gibt, oder wenn er nervös wird bei manchen Themen." Und dann? "Wenn man das Gefühl hat, angeschwindelt zu werden, bringt man das Gespräch trotzdem professionell zu Ende, man konfrontiert einen Kandidaten nicht damit." Ein Handzeichen oder andere versteckte Signale zu der Führungskraft, die mit im Gespräch sitzt, reichen.

Patrick Rosenow ist Rechtsanwalt in München, eines seiner Fachgebiete ist das Arbeitsrecht. Er erläutert, wann sich ein schwindelnder Bewerber strafbar macht und was die rechtlichen Konsequenzen wären: "Kritisch wird es beispielsweise, wenn ein Bewerber über seine Berufsqualifikation täuscht, also ein vermeintlicher Mediziner über keine Approbation verfügt", sagt Rosenow. "Hier drohen zivilrechtliche Schadensersatzansprüche und eine Anfechtung des Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung, sowie eine Strafanzeige wegen Missbrauchs von Berufsbezeichnungen und Betruges."

Soft Skills wie "kommunikatives Talent" lassen sich mit etwas Geschick kaschieren. Wer aber Fremdsprachenkenntnisse oder IT-Wissen vortäuscht, kann auf die Nase fallen. "Eine Lüge verschafft einem vielleicht die Möglichkeit, durch die Tür zu gehen", erklärt Jung. Zum Problem werde meist die Probezeit, häufig sechs Monate, in der geliefert werden müsse. "Wenn dann eine Diskrepanz aufkommt zwischen dem, was ein Bewerber im Gespräch gesagt hat, und dem, was er leistet, kommt alles raus - jedenfalls bei Lügen, die auf Leistung und Qualität abzielen."

Kann eine Lüge verjähren? "Ein entsprechender zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch verjährt in drei Jahren ab Kenntnis des Arbeitgebers, ohne Kenntnis in zehn Jahren", sagt Rosenow. "Eine Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Täuschung ist binnen eines Jahres ab Kenntnis des Arbeitgebers, ohne Kenntnis innerhalb von zehn Jahren ab Abschluss des Arbeitsvertrags möglich. Während der Probezeit ist eine Kündigung sowieso innerhalb von zwei Wochen möglich."

Manchmal ist die Unwahrheit allerdings durchaus gestattet. Die berüchtigte Frage nach einer Schwangerschaft ist unzulässig, da sie wegen des Geschlechts benachteiligt. Unzulässig sind auch Fragen nach Familienplanung und Familienstand, nach der Religionszugehörigkeit oder den Vermögensverhältnissen. "Die jeweilige Frage muss für den konkreten Arbeitsplatz und die konkrete Tätigkeit von Bedeutung sein", sagt Rosenow.

Zulässig sind Fragen nach der beruflichen Qualifikation, einer Alkohol- und Drogenabhängigkeit, wenn die Tätigkeit voraussetzt, dass keine Suchterkrankung vorliegt, etwa bei einem Berufskraftfahrer, einer Vorstrafe, wenn dies der Arbeitsplatz erfordert, oder die Frage nach Vermögensdelikten bei Bankmitarbeitern. Anders sieht es bei berufsirrelevanten Aspekten aus. "Wenn Fragen das Informationsinteresse des Arbeitgebers, zum Beispiel nach Freizeitaktivitäten, übersteigen, muss der Bewerber nicht wahrheitsgemäß antworten."

Dennoch sollte man eine gute Antwort in petto haben. "Hinter der Weltreise oder dem längeren Hüten des Kindes versteckt sich eben doch häufig eine Sperrfrist oder eine Jobsuche", sagt Jung. "Da sollte der Bewerber vorbereitet sein, weil ich dann nachfrage: Was waren die Stationen der Reise, was waren die beeindruckendsten Orte? Da kriegt man schon mit, ob jemand wirklich dort war oder es sich kurz vor dem Gespräch angelesen hat."

Denn oft geht es gar nicht mal um Lügen, sondern um Lücken im Lebenslauf. Die entstehen hin und wieder - verschuldet oder unverschuldet. Die Zeit bis zum Antritt des Studienplatzes war zu überbrücken. Man hatte einen Burn-out, eine schwere Krankheit oder eine pflegebedürftige Mutter. "Als Personaler bevorzuge ich, dass man mit Lücken offen umgeht", sagt Jung, "und sie in den Lebenslauf schreibt."

Natürlich komme es auf den Grund an. "Wenn man alkoholsüchtig war und dreimal einen Entzug hatte, verstehe ich, dass man das verschleiern möchte." Er erzählt von dem Bewerber, der zwei Jahre lang an einer schweren Depression litt und ausfiel. "Das hat er im Gespräch auch zugegeben, und das fand ich beeindruckend." Grundsätzlich fahre man mit der Wahrheit besser, denn für manche Stellen seien Lücken ja nicht relevant.

Bleibt die Frage, warum Blender automatisch als die schlechteren Kandidaten gelten. Vielleicht sind sie ja besonders kreativ und daher für manche Tätigkeiten erst recht qualifiziert? Wer sich gut verkauft, ist ja mitunter genau das: ein Verkaufstalent, also für den Vertrieb bestens geeignet. Und in manchen Berufen mag "teamunfähig" genau das Richtige sein, ein Ingenieur ist einsam am Zeichentisch oft am innovativsten und produktivsten, ihm hohe Sozialkompetenz abzuverlangen, kann kontraproduktiv sein. Warum also bestehen alle auf "Teamfähigkeit"? Vermutlich weil es bequemer ist, sich Konventionen hinzugeben.

Jeff Scardino hat vor ein paar Jahren den umgekehrten Weg gewagt. Auf zehn Stellenanzeigen reagierte der New Yorker Werbekaufmann mit dem klassischen "Ich bin toll und erfolgreich"-Lebenslauf und parallel unter anderem Namen mit einem brutal ehrlichen, mit Schwächen und Fehlschlägen: Er sei unter anderem unpünktlich und habe bereits drei Pitches nicht gewonnen, war dort beispielsweise zu lesen. Lediglich ein Unternehmen reagierte auf die klassische Bewerbung, acht dagegen wollten den ehrlichen Scardino in einem Vorstellungsgespräch kennenlernen. "Es war sehr erfrischend, einen anderen Ansatz zu sehen", antwortete ihm ein Personaler - und schickte eine Einladung.

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SZ vom 16.06.2018/mkoh
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