Marvin Möller starrt konzentriert auf ein langes Zinkblech. Der 19-jährige Hamburger sitzt in zugiger Höhe auf einem Gerüstbrett am Dach des Industriemuseums in Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Die Nachwehen des Sturmtiefs Xavier machen es ungemütlich. Möller probiert zum ersten Mal, ein Teil eines tonnenförmig gewölbten Metalldachs festzuzurren. Mit ein bisschen Anleitung der erfahrenen Handwerker, die ihn umringen, sitzt die Naht.
Seine Erfahrung behält der 19-Jährige nicht für sich, sondern teilt sie auf Instagram und Facebook. Er und seine aus Flensburg stammende Begleiterin Charlotte Stanke schnuppern als "Rekordpraktikanten" im Auftrag des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) in 44 Betriebe rein. Sie sollen die Vielfalt der Handwerksberufe zeigen und Einblicke geben, was sich hinter den Berufsbezeichnungen wirklich verbirgt. Auf beiden Plattformen kommen die "Rekordpraktikanten" auf insgesamt fast 5000 Abonnenten. Bis Jahresende bereisen sie alle Bundesländer. Jetzt waren sie bei ihrer einzigen Station in Sachsen-Anhalt: Bei Dachbaukunst Quedlinburg, wo sie den Beruf des Dachklempners kennenlernen sollen.
Ein Kurzpraktikum mit Hürden. Sturmtief Xavier verhinderte, dass die beiden viel auf dem Dach machen konnten, sagt Stanke. Stattdessen bereiteten sie am Boden die Bleche für das Dach vor. Ihr Eindruck? "Zuallererst: Aha, das gibt's?", sagt Stanke. "Vom Dachklempner habe ich vorher noch nie etwas gehört. Es gibt unglaublich viele Werkzeuge und es ist schwerer, als es aussieht." Und was macht ein Dachklempner? Er arbeitet mit Metallen als Dach- und Fassadenverkleidung, sagt Dachbaukunst-Geschäftsführer Norbert Augner. Im Fall von Augner und seinen zwölf Mitarbeitern etwa für Industrieneubauten. Vor allem aber bei der Sanierung von Denkmälern und Kirchen - so wie jetzt im Industriemuseum Schönebeck.
Sie habe auf ihrer Reise seit dem Start im August bereits viele neue Berufe kennengelernt, Seiler zum Beispiel, sagt Stanke. In den sozialen Netzwerken teilen sie ihre Erlebnisse in kurzen Videoclips und Fotos. "Wir sind nicht da, um Werbung zu machen, wir sagen immer unsere Meinung", sagt Möller. Bei Instagram berichteten beide etwa vom komischen Gefühl, in einem Bestattungsbetrieb einen Toten zu sehen.
Die beiden Rekordpraktikanten sind selbst noch auf Berufssuche. Es könnte einer im Handwerk werden. Bei Möller ist nach 21 Stationen Ofenbauer der Favorit. Die begeisterte Reiterin Stanke könnte sich für den Sattlerberuf erwärmen.
"Wir bekommen auch immer wieder Lehrangebote bei den Betrieben", sagt die 20-Jährige. "Marvin zum Beispiel wollten die Maler sofort da behalten." Das verwundert wenig. Das Handwerk sucht über alle Gewerke hinweg Fach- und Nachwuchskräfte, wie ZDH-Generalsekretär Holger Schwannecke sagt. Das liege an der guten Konjunktur, an der sinkenden Zahl junger Menschen - und der großen Beliebtheit des Studiums.
Die duale Berufsausbildung müsse wieder mehr als echte Alternative thematisiert werden, sagt Schwannecke. Sein Verband starte seit 2014 immer neue Kampagnen, um Jugendliche zu begeistern - so wie jetzt mit den "Rekordpraktikanten". Es zeigten sich erste Erfolge, so Schwannecke. In den vergangenen beiden Jahren seien nach jahrelangen Rückgängen jeweils wieder etwas mehr neue Ausbildungsverträge bundesweit im Handwerk geschlossen worden.
Doch viele Betriebe in den ländlichen Regionen plagen sich den Handwerkskammern zufolge mit Nachwuchssorgen. Das liege auch an einem Imageproblem, sagt Dachbaukunst-Chef Augner. "Das Handwerk ist bei vielen nahezu verschrien", sagt er. "Wie oft höre ich das Vorurteil, das seien alles nur Bauarbeiter, Baustellenrülpser, die sich kaum verständigen könnten", sagt Augner. Daran müsse sich etwas ändern. Die neue Kampagne kann aus seiner Sicht dabei helfen, Vorurteile abzubauen. Viele Handwerksberufe seien sehr anspruchsvoll. Beim Dachklempner etwa gebe es auch nach der eigentlichen Lehre noch viel zu verfeinern, ehe alles sitze.
So viel Zeit haben die Schnupperpraktikanten Stanke und Möller nicht. Auch das Ende der Dacharbeiten am Industriemuseum, Mitte November, werden sie nicht mehr mitbekommen. Für sie geht es nach dem Wochenende zum nächsten Betrieb - in die Region Leipzig.