Berufsleben:"Man versucht, nicht so emotional zu sein"

Berufsleben: Manfred Müller hat sich akribisch auf den Ruhestand vorbereitet. Trotzdem ist alles, was jetzt kommt, Neuland für ihn.

Manfred Müller hat sich akribisch auf den Ruhestand vorbereitet. Trotzdem ist alles, was jetzt kommt, Neuland für ihn.

(Foto: Schaeffler)

Scheiden tut weh, auch vom Job. Wir haben Qualitätsmanagementberater Manfred Müller, einen Workaholic, über Monate in den Ruhestand begleitet.

Von Miriam Hoffmeyer

Noch drei Jahre

Als die Rente mit 63 beschlossen wird, kommt Manfred Müller ins Grübeln. Einerseits ist er ein Workaholic, der jeden Morgen um zehn vor fünf Uhr aufsteht und keine Angst vor Überstunden hat. Fast sein ganzes Berufsleben hat er bei derselben Firma verbracht, bei Schaeffler in Herzogenaurach, einem Zulieferer der Automobil- und Maschinenbauindustrie. Werktage ohne Arbeit kann sich Manfred Müller nur schwer vorstellen.

Andererseits hat Müller als Qualitätsmanagementberater eine berufsbedingte Schwäche für Statistik. Deshalb setzt er sich hin und rechnet aus, wie lange er den Ruhestand voraussichtlich bei guter Gesundheit wird genießen können, unter Berücksichtigung der statistischen Lebenserwartung für seinen Geburtsjahrgang 1955 im Allgemeinen und der Lebensdauer seiner eigenen Vorfahren im Besonderen. Und so kommt er irgendwann ganz rational zu dem Entschluss, das Geschenk der Politik anzunehmen. Manfred Müller beschließt, mit 63 Jahren aufzuhören.

Noch ein Jahr

2016 macht Müller seine Entscheidung offiziell. Die Nachricht wird nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Die Firma Schaeffler trennt sich äußerst ungern von diesem Mitarbeiter. Sein Job besteht darin, im Bereich "Beschichtung /Oberflächentechnik" weltweit Fehler zu verhindern - also unter anderem Probleme zu analysieren, die Unternehmensleitung bei der Beschaffung von Messtechnik zu beraten, Reklamationen zu bearbeiten, Mitarbeiter zu schulen.

Nach dem Ausscheiden seines direkten Vorgesetzten hat Müller zusätzlich dessen Aufgaben kommissarisch übernommen. Und dann auch noch diejenigen einer Kollegin in Elternzeit, die für Lieferantenentwicklung zuständig war. Der Mann, der jetzt für drei arbeitet, rechnet aus, wann sein letzter Tag im Unternehmen ansteht: offiziell am 1. Februar 2018, unter Berücksichtigung von Altersteilzeit und Urlaub aber schon am 3. Juli 2017. Wenn Manfred Müller an diesen Tag denkt, wird ihm ein wenig flau.

Noch vier Monate

"Zwei Stunden reichen sicher nicht", sagt Müller in seinem ostfränkischen Dialekt. Das ist die übliche Zeit für einen Expert-Debriefing-Termin. Seit über zehn Jahren nutzt Schaeffler solche Gespräche, um zu verhindern, dass das Wissen ausscheidender Mitarbeiter verloren geht. Etwa 40 Expert-Debriefings finden im Jahr statt - nicht nur mit Akademikern, sondern auch mit Mitarbeitern, die wie Müller eine gewerbliche Ausbildung gemacht haben.

Karin Hartmann, die das Verfahren im Unternehmen eingeführt hat, spricht vom "Glorienschein der Experten mit jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit". Dafür ist Manfred Müller ein Paradebeispiel. Wenn solche Mitarbeiter in Rente gingen, steige für die Jüngeren die Gefahr, bereits erkannte Fehler noch einmal zu machen, erklärt Hartmann: "Es fehlen dann nämlich diejenigen, die wissen, dass das schon damals nicht funktioniert hat, beziehungsweise sich daran erinnern, dass sie doch schon mal einen Lösungsansatz hatten."

In einem kargen Besprechungsraum - Neonröhren, Kabelsalat, alte Teppichfliesen - sitzen Müller und die Personalerin Nina Langenberger an einem Tisch, vor einer an die Wand projizierten Struktur. Die elektronische Mindmap hat unzählige Verästelungen, die systematisch abgearbeitet werden: Ausbildung, Weiterbildung, Arbeitshistorie, Aufgaben, Projekte, Wissensgebiete, Datenablage und so weiter.

Übergabe: "Man ist nie gefeit davor, dass irgendwo die Hütte brennt"

Berufsleben: Manfred Müller hat sich akribisch auf den Ruhestand vorbereitet. Trotzdem ist alles, was jetzt kommt, Neuland für ihn.

Manfred Müller hat sich akribisch auf den Ruhestand vorbereitet. Trotzdem ist alles, was jetzt kommt, Neuland für ihn.

(Foto: Schaeffler)

Manfred Müller, im Polohemd mit Firmenaufdruck, hat sich akribisch vorbereitet. Er kann auf mehr als 50 elektronische Mindmaps zurückgreifen, die er über Jahre für seine Arbeitsgebiete angelegt hat. Und immer geht es um Qualitätsmanagement. "Ich bin total auf Q geprägt", sagt er begeistert. "Mein Ideal ist: null Fehler."

Was sein wichtigstes positives Erlebnis bei Schaeffler gewesen sei? "Ich war zehn Jahre lang in einem Bereich, wo 15 Millionen Riemenscheiben pro Jahr gefertigt wurden. Wir hatten über ein Jahr lang keine einzige Reklamation." Nina Langenberger fragt: "Wie wurde das erreicht?" Müller erklärt: "Die Mitarbeiter hatten Interesse an dem Bauteil, haben von sich aus auf Fehler aufmerksam gemacht. Jeder macht an seinem Fleckchen, was er kann."

Müller hat Werkzeugmacher gelernt. Bei der Bundeswehr machte er seinen Industriemeister und fing am 1. Juli 1977 bei Schaeffler an. Als das Wort Qualitätsmanagement in Deutschland noch so gut wie unbekannt war, arbeitete er schon als "Laufkontrolleur" in der Zieherei. Müllers Augen leuchten, während er weitere Stationen aufzählt: Hülsenfreiläufe, Klemmkörperfreiläufe, Riemenspanner, Riemenscheiben.

Welche internen Kontakte er habe, will Langenberger wissen. "Zu jedem Q-ler in jedem Segment von Schaeffler weltweit, der mal ein Beschichtungsproblem hatte." Diesen vielen Kontakten trauert Müller jetzt schon hinterher, und auch der Abwechslung in seinem Job: "Man weiß nie, was der Tag bringt, ist nie gefeit davor, dass irgendwo die Hütte brennt." Reklamationen, Probleme, das sei ja eigentlich etwas Negatives. "Aber als Q-ler musst du eine positive Ausstrahlung haben. Das bekommt man dann auch zurück."

Für seinen Nachfolger, der im März schon ziemlich dringend gesucht wird, hat Müller eine Reihe von Ratschlägen. "Er ist der Hüter des Gesetzes", sagt er. "Er muss aber auch offen sein, die Themen verstehen lernen, versuchen, mit seinem Wissen eine Autorität zu werden." Natürlich hat die Zeit nicht gereicht. Zwei weitere Debriefing-Termine werden angesetzt.

Noch ein Monat

Müllers Stelle ist seit Monaten ausgeschrieben, aber im Juni gibt es immer noch keinen Nachfolger. "Doppelt schade, dass er uns verlässt, aber wir können es nicht ändern", sagt Ralf Sigel, sein Vorgesetzter. "Die Anforderungen für die Stelle sind sehr hoch. Wir würden sie am liebsten intern besetzen, weil es so viele Schnittstellen zu anderen Bereichen gibt."

Bis auf Weiteres wird Sigel, der auch schon 51 Jahre alt ist, Müllers zahlreiche Aufgaben mit übernehmen müssen. Seit sieben Wochen wird er dafür eingearbeitet. Das sei schon etwas merkwürdig mit dem eigenen Chef als Schüler, meint Müller. "Von seiner Art liegt er auf derselben Wellenlänge wie ich, er hat eine sehr vernünftige Einstellung. Aufgrund seiner Jugend, also Jugend in Anführungszeichen, kann er auch noch etwas vorantreiben, während bei mir Tag für Tag zu erkennen ist: Du bist zwar noch da, kannst aber immer weniger bewegen. Man muss sich damit zufriedengeben und es langsam ausklingen lassen."

Noch zwei Wochen

Tagsüber geht Müller eine sehr lange Checkliste mit Sigel durch. Abends stimmt er sich auf den Ruhestand ein, den er seinem Charakter entsprechend exakt plant. Im Arbeitszimmer daheim hat er sich schon ein Studio für Makrofotografie eingerichtet, er möchte Insekten fotografieren und mit Lichteffekten auf gläsernen Objekten experimentieren.

Neuanfang: "Der Tag soll ja sinnvoll genutzt werden"

Berufsleben: Das Foto zeigt Müller mit seinem jungen Kollegen Christian Hack am Arbeitsplatz.

Das Foto zeigt Müller mit seinem jungen Kollegen Christian Hack am Arbeitsplatz.

(Foto: Schaeffler)

Ansonsten sind Müllers Rentenpläne die üblichen: den Keller entrümpeln, den Gartenzaun streichen, die Enkel öfter sehen, Reisen und Radtouren mit alten Freunden und seiner Lebensgefährtin unternehmen, die auch schon in Rente gehen könnte. "Sie muss auch loslassen - wann genau, darüber diskutieren wir noch", sagt Müller. Wenn er jetzt auf dem Werksgelände unterwegs ist, wächst die Angst vor dem Abschied. "Heute habe ich einen Gang zu meinen alten Kollegen in der Freilauffertigung gemacht. Wenn man die wieder spricht und einem so die Sympathie entgegenkommt, dann denke ich schon: Das werde ich vermissen."

Der letzte Tag

Der letzte Arbeitstag, es ist der 3. Juli 2017: Zu seiner Abschiedsfeier hat Manfred Müller 80 Leute ins Kasino auf dem Werksgelände eingeladen, 67 sind gekommen, gesetztes Essen mit Drei-Gänge-Buffet, an der Wand Leonardo da Vincis "Vitruvianischer Mensch" inmitten eines Kugellagers. An seiner Rede hat Müller tage- und wochenlang gefeilt, immer wieder etwas geschrieben und verworfen. Am Ende besteht die Rede, die er nicht ohne Lampenfieber hält, aus fünf Seiten, auf denen viele, viele Namen aufgezählt werden.

"Ein paar Leute waren wohl ein bisschen gekränkt, dass sie nicht vorgekommen sind, aber ich kann ja nicht alle erwähnen", sagt Müller hinterher. Auch Ralf Sigel hält eine Rede: Dank und Wertschätzung. Nach anderthalb Stunden ist die Feier vorbei, und der schwierigste Teil steht bevor, der Abschied von den Kollegen in der Abteilung. "Man versucht, nicht so emotional zu sein. Aber da war schon Feuchtigkeit im Auge."

Der Tag danach

Am 4. Juli erwacht Manfred Müller wie immer um zehn vor fünf, bleibt aber bis halb acht im Bett liegen. Dann nimmt er beherzt die geplanten Arbeiten an Haus, Garten und Schuppen in Angriff. Seine Lebensgefährtin sei jetzt sein Arbeitgeber, scherzt er und ist merklich froh darüber: "Man hat jahrelang die Struktur, und dann muss man sich selbst beschäftigen. Und der Tag soll ja sinnvoll genutzt werden, nicht vergeudet."

In den Wochen danach denkt Müller viel an die Abschiedsfeier zurück und überhaupt an seine Zeit bei Schaeffler. An die ersten Jahre, als die Daten noch auf Lochkarten gespeichert wurden und ein Taschenrechner 200 Mark kostete. Und an die "schlimmen Zeiten" nach der Conti-Übernahme 2009, als das Unternehmen kurz vor dem Bankrott stand und die Beschäftigten geschlossen vom Werkstor zum Marktplatz zogen, um staatliche Hilfen einzufordern. "Da hatte ich große Angst, nach all den Jahren arbeitslos zu werden", sagt er.

Die Wochen danach

Ganz vorsichtig fängt Müller an, die freie Zeit zu genießen. Und ist doch froh, dass er schon nach zwei Wochen wieder im Werk vorbeischauen kann: Betriebsjubiläumsfeier, ebenfalls im Kasino. Eine Personalerin spricht vor ein paar Dutzend Mitarbeitern, die vor 25 oder - wie Müller - vor 40 Jahren bei Schaeffler angefangen haben, von Dank und Wertschätzung.

Die Gratifikationen werden zusammen mit dem Gehalt ausgezahlt, jeder Jubilar bekommt zudem die Titelseite des Fränkischen Tages vom Datum seines Eintritts in die Firma: Der amerikanische Präsident Jimmy Carter wirbt für Nahostverhandlungen, die Opec einigt sich auf die Ölpreise. Zwischendurch eilt der Schaeffler-Technologievorstand Peter Gutzmer durch den Saal, hält aber zur Enttäuschung der Versammelten nicht an.

Natürlich trifft Müller an diesem Tag wieder viele alte Bekannte. "Bis zum Fünfundzwanzigsten!", ruft er einem Kollegen zu, dessen Abschiedsfeier bevorsteht. Den ganzen Tag könnte er hier mit Leuten reden, meint Müller. "Aber wenn man nicht mehr arbeitet, geht das bald alles auseinander. Da mache ich mir nichts vor." Immerhin sei ihm bis jetzt nicht langweilig geworden im Ruhestand: "Aber vom Gefühl her ist es auch noch wie Urlaub, nicht wie Rente."

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