Berufseinstieg:Mit Lebenslauf ist nicht der tägliche Weg zur Arbeit gemeint

Bundesfreiwilligendienst

Mal was völlig Anderes machen: Freiwilligendienstler führen eine Wanderung durch den Nationalpark Wattenmeer an.

(Foto: dpa)

Firmen werden misstrauisch, wenn 30-jährige Bewerber keine Berufserfahrung mitbringen. Trotzdem ist es Unsinn, immer nur Curriculumspunkte zu sammeln. Ein Plädoyer.

Von Alex Rühle

Kommt nicht oft vor, dass ein Soziologe mit seiner Habilitationsschrift plötzlich im Zentrum des Diskurses steht. Hartmut Rosa aber traf 2005 mit "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne" derart schmerzhaft und genau einen Nerv, dass Thomas Assheuer in der Zeit schrieb, der Jenaer Soziologe habe eine "monumentale Theorie unserer Epoche" verfasst. Rosa zeigte nämlich, dass die eigentliche Grundkraft der Moderne die stumme normative Gewalt der Beschleunigung sei.

Ihre besondere Überzeugungskraft bezog diese Studie daraus, dass Rosa quer durch alle Lebensbereiche zeigen konnte, wie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts Zeitwahrnehmung und Temporalstrukturen generell beschleunigen, wie dadurch Unruhe und seelisches Seitenstechen kollektiv anwachsen und wie viele unterm ökonomistischen Diktat der Fristen und Deadlines immer hektischer durch immer kleiner werdende Zeitfenster krabbeln. Kurzum, das Hecheln ist der Grundpuls des modernen Menschen.

Umso absurder mutet da im Nachhinein an, dass Schule und Studium, die beiden Großkapitel der Ausbildung, in den vergangenen Jahrzehnten um jeden Preis gestrafft werden mussten. Jeweils mit dem Argument, damit werde wertvolle Zeit gespart. Zeit für was? Die meisten Eltern werden bestätigen können, dass heutige Abiturienten in der 12. Klasse nicht händereibend dastehen und sagen, na Mensch, endlich geht's los. Eher fragen sie sich nach dem Punkte- und Prüfungsmarathon erschöpft, wohin eigentlich? Und wozu?

Der Spiegel diagnostizierte kürzlich, Lehrer, Eltern, Berufsberater und Wissenschaftler würden "viele Abiturienten von heute als hilflos, orientierungslos, planlos erleben". Klar gibt es dafür viele Gründe, unter anderem 19 000 Studiengänge, also doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Und wie soll jemand, der sich für ein Wirtschaftsstudium interessiert, wissen, ob er nun besser Gründungsmanagement, International Business oder doch lieber International Management wählt?

Abiturienten haben keine Ahnung, was sie tun sollen

Aber es ist auch einfach verdammt früh im Leben. Zumal ja die Verknappung der Gymnasialzeit auf acht Jahre kaum Zeit ließ, über den Tellerrand der nächsten Schulaufgaben hinauszuschauen. Da die meisten Abiturienten aber nach der Schule keine Ahnung haben, was sie tun sollen, setzen sich viele von ihnen erst mal in irgendein Flugzeug, blasen Kerosin in die Luft und erfüllen Hans Magnus Enzensbergers Satz "Indem wir finden, was wir suchen, zerstören wir es."

Enzensberger hat den Satz in den Fünfzigerjahren auf den gerade erst aufkeimenden Massentourismus gemünzt. Er gilt aber auch für all die bildungspolitischen Beschleunigungsdogmatiker, die da behaupteten, das fade deutsche Bildungssystem raube den jungdynamischen Menschen "wertvolle Zeit, die sie für Familiengründung, Beruf und Aufbau ihrer Altersversorgung nutzen können". So drückte es der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber einst aus, als er über Nacht das G 8 über Bayern brachte.

Die besten Praktikanten sind nicht unbedingt die jüngsten

Man muss dieses schulpolitische Rundumdesaster nicht noch mal auffächern, es reicht, sich still zu freuen, dass es nun endlich zurückgenommen wurde. Und man kann nur hoffen, auch im Namen aller Lehrer, die 15 chaotische Jahre lang mit immer neuen Umstrukturierungsbefehlen beprasselt wurden, dass die Kultusministerialbeauftragten es einfach mal gut sein und sie die Lehrer ihre eigentliche Arbeit machen lassen: Den Schülern in Ruhe etwas beizubringen.

Wenn wir aber schon dabei sind, für mehr Zeit zu plädieren, sollte man sich auch die aktuelle Debatte um die Wehrpflicht oder ein allgemeines soziales Jahr noch mal ansehen. Ob das juristisch überhaupt machbar ist, wäre eine der Fragen. Aber eine bessere finanzielle Ausstattung des Bundesfreiwilligendienstes, die vielleicht mehr Leute dazu bringt, nach der Schule ein soziales Jahr einzulegen, würde sich bestimmt für alle Beteiligten rechnen. Wer das Gesundheitssystem unserer Tage auch nur kurz von innen erlebt hat, weiß, wie absurd unterbesetzt Krankenhäuser, Pflegestationen, Heime sind. Und wer die ängstlich schmalen Lebensläufe vieler junger Leute sieht, denkt sich schon auch im Stillen, na, irgendwann mal was völlig Anderes hätte diese Biografie vielleicht auch anders zum Blühen gebracht.

Es hat schon seine Gründe, dass viele Mittvierziger den Zivildienst als sehr prägende oder gar bereichernde Zeit in Erinnerung haben. Hämisch gefragt: Wann kommt man schon mal raus aus seinem sozialen Kokon? Freundlicher gewendet: Wann hat man schon die Möglichkeit, wirklich völlig andere Lebenswelten für ein paar Monate kennenzulernen?

Die eigene Meinung beeindruckt im Praktikum stärker als gute Noten

Wer jetzt sagt, da redet irgendein Onkel daher - ja, mag sein. Aber die zehn Jahre des Mäanderns mit Zivildienst, Kellnern im Café, zweckfreiem Lesen, Radtouren durch Europa waren sicher so sinnstiftend und prägend wie alles seither. Um es mal appellativ zu formulieren: Lasst euch Zeit. Das Leben, das mit 20 vor einem zu liegen scheint wie die Great Plains, ein weites, in alle Richtungen hin offen schimmerndes Versprechen, verengt sich schnell genug auf den täglichen Weg zur und von der Arbeit.

Ja, es stimmt, die Unternehmen schauen misstrauisch, wenn 30-Jährige anklopfen, die noch keine Berufserfahrung vorzuweisen haben. Aber man gibt auch keine innerbetrieblichen Geheimnisse preis, wenn man enthüllt, dass in den meisten Unternehmen diejenigen Praktikanten den besten Eindruck hinterlassen, die ihren eigenen Kopf und ihre eigene Meinung haben. Die Zeit hatten, sich selbständig und aus Eigeninteresse Dinge aus abseitigen Wissensgebieten anzulesen. Und die zumindest vorübergehend Lebenserfahrungen in Bereichen gesammelt haben, die vielleicht nicht sofort in Curriculumspunkte umsetzbar sind, aber auf Dauer zu einer reicheren biografischen Hintergrundstrahlung führen.

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