Das Pflücken ist eine meditative Sache", sagt Siegi Platzer und nippt an seinem Tee. Er empfängt Besucher gern im Salon. Das war früher der Stall im elterlichen Bauernhaus - und man kommt nicht umhin festzustellen: Man riecht es noch. Doch das ist bald unwichtig. Siegi und seine Lebensgefährtin Traude bewirten die Besucher mit duftendem Tee: Von Hand gepflückt, getrocknet und verpackt: "Wir sind eine Teemanufaktur", betont Siegi. Betriebswirtschaftlich ausgedrückt ist Kräutertee aus den Stilfser Bergen Siegis Unique Selling Proposition, zu deutsch: sein Alleinstellungsmerkmal.
In Glaskannen dampfen frisch gebrühte Kräutermischungen. Man hört zu, wie Siegi und Traude schwärmen: von der Schönheit der Stilfser Berge; von den seltenen Blumen, die hier oben auf 1300 bis hinauf auf 2000 Meter über Meereshöhe wachsen; von der Heilkraft der Kräuter, die in diesen Hochlagen gedeihen. Der Salon ist zugleich Verkaufsraum des Unternehmens "Stilfser Bergkräuter". In Vitrinen sind die Teepäckchen platziert, indirekte Beleuchtung setzt den Raum mit seinen grob behauenen Decken- und Bodendielen in Szene. Durch die Ritzen dringt die Kälte. Ohne die Wärme, die ein Heizpilz verströmt, wäre es hier im März noch sehr ungemütlich.
Doch Siegi Platzer, ein ehemaliger Bankangestellter, und seine Partnerin Traude Horvath, die in ihrem früheren Leben Soziologie studiert und später ein Restaurant in Wien betrieben hat, scheinen die Kälte nicht zu bemerken. Verglichen mit ihrem alten, saturierten, gesicherten Leben ist es in Stilfs eher karg und einsam. Aber das ist für die beiden kein Verlust, sondern Gewinn - an Lebensqualität. Siegi Platzer war 24 Jahre lang ein Banker, wie man in London sagen würde. In Südtirol sagt man ein wenig bodenständiger, der Siegi hat bei der Raiffeisenkasse gearbeitet - zuletzt war er Filialleiter in Glurns, Südtirols ältester und zugleich kleinster Stadt im Vinschgau. "Ich hab ein bissl Erspartes mitgenommen und bin gegangen." Er ging, weil er es so wollte.
Was trieb ihn an?
Wenn es kein Rauswurf, kein Burnout und auch keine Krankheit war: Was trieb ihn dann an? Siegi holt ein wenig weiter aus - das tut er gerne, denn für ihn steht alles in einem größeren Zusammenhang, die großen und die kleinen Dinge des Lebens, sie gehören zusammen, bedingen einander. "Also wenn man zurückschaut, wie das früher hier war: Das Leben war hart, die Familien waren kinderreich und hatten viele hungrige Mäuler zu stopfen. Jeder war hier Selbstversorger, jahraus jahrein gab es nichts als schwere Arbeit. Und jeder, der konnte, sagte sich: Ich geh' irgendwohin arbeiten und schind' mich nicht mehr."
Genauso hatte es Siegi ja damals auch gemacht - er ging woanders hin, um sich nicht so zu schinden. Und es ist auch gut gelaufen für ihn. Doch im Jahr 2002, mit 46 Jahren, kamen ihm Zweifel. Er fragte sich: "Wie will i weitermachen? Immer nur am Schreibtisch sitzen, und körperlich nichts tun?" Keine Bewegung, kaum draußen, immer nur drinnen zu hocken - und das noch weitere 14 Jahre, bis zum Ruhestand? Das war für den Naturmenschen Siegi Platzer eine wenig verlockende Aussicht. Er begann nachzudenken: Darüber, woher er kommt, über das kleine, von Abwanderung ausgezehrte Heimatdorf Stilfs mit seinen engen steilen Gassen. Nur noch 500 Menschen wohnen hier. Doch er entschied sich gegen den Trend: "I' bleib grod da!"
Die Dörfler beäugten ihn zunächst misstrauisch. Und dass auch noch die Traude aus Wien hierher übersiedelte, sahen sie skeptisch. Eigentlich nicht verwunderlich: Wer kann, geht weg, und nun kommt da der Platzer Siegi, der auch wegging und es geschafft hat, wieder zurück in diesen sterbenden Ort? Und es ist auch nicht so, dass er sogleich die eine zündende Geschäftsidee gehabt hätte, sich mit Bergkräutern und Heublumen eine neue Existenz aufzubauen. Es war schon eher ein Prozess mit Versuch und Irrtümern. Anfangs probierte er es mit Pferde-, Schaf- und Ziegenhaltung, aber, "das hat net guat funktioniert".
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Erst dann kam die Idee mit den Kräutern. Er besuchte Seminare - etwa zum Thema Heilkräuter. "Doch gelernt habe ich erst, als ich anfing zu arbeiten", sagt er. Dann hat er angefangen - mit einer Teemischung. "Dank Traudes Kontakten in Wien konnte ich am Naschmarkt verkaufen. Naturreine Kräutertees aus Stilfs, das haben die Leute gut angenommen." Zweifel, dass das ankommt, plagten Siegi Platzer nie. Und Berührungsängste hat er auch keine. Er bietet in Hotels Teeverkostungen an, geht auf Bauernmärkte - und scheut auch vor großen Namen nicht zurück. So hat er die Geschäftsführer der Wiener Confiserie Heindl am Graben und des Münchner Feinkosthändlers Käfer überzeugt, seine Waren ins Sortiment zu nehmen - "ohne Termin bin ich da reingegangen", sagt er und strahlt zufrieden.
Heute umfasst das Sortiment 30 Teemischungen, daneben Gewürze, Sirups und Geschenkartikel. Seine Kreationen tragen die rätoromanischen Namen von Flurstücken um Stilfs herum. Die Mischung aus Salbei, Kornblume, Malve und echter Kamille heißt "Gaschaun", die duftige Vermählung von Berglinde und Pfefferminze "Maretscha". Wer auf seiner Webseite www.stilfser-bergkraeuter.it nachschaut, stellt zweierlei fest: Seine Tees sind mit acht bis 9,50 Euro pro Päckchen keine Schnäppchen. Und zweitens sind die meisten Mischungen ausverkauft - bis zur nächsten Ernte.
Beim Rundgang durch Stilfs blickt der Besucher hinab auf die tiefer liegenden Häuser: Dächer und Treppen und ein paar winzige grüne, teils terrassierte Flächen dazwischen. "Stell dir vor, früher haben die Leute hier jeden Flecken bestellt - mit Gemüse, Kräutern und Roggen", erzählt er. Davon mussten die Menschen leben. Im Winter waren sie oft monatelang von der Außenwelt abgeschnitten. Die Parzellen lassen sich auch heute nur in Handarbeit bestellen, denn sie sind so klein und die Gassen so steil, dass eine Maschine kaum den Einsatz lohnt. Sense, Spaten und Rechen waren und sind die Gerätschaften, mit denen Siegi auch heute arbeitet.
"Meine Böden sind mein größtes Kapital", er sagt, sie seien das Vermächtnis der Arbeit der Eltern und Großeltern. Er steht auf seinem größten Grundstück, den Bödenäckern, nur einen Steinwurf vom Elternhaus entfernt. Es ist ein schmaler Hangstreifen, in dem lange Beete gehäufelt sind: rote Kornblumen, Ringelblumen, blaue Kornblumen, daneben Stockmalven wachsen da - in der Blütezeit malen sie ein buntes Streifenbild an den Hang, jedes Jahr in anderer Reihenfolge, damit die Böden nicht auslaugen. Siegi greift in die Erde und lässt sie zwischen den Finger rieseln: "Vierzig Zentimeter dick ist unsere Humusschicht, das ist toll", sagt er begeistert. Vier Flurstücke bebaut er, 6000 Quadratmeter sind es insgesamt - mit unterschiedlichen Böden, Windverhältnissen und Höhen.
Und doch, sagt er, gibt es noch etwas Höheres als die hiesigen Kräuter und blickt hinauf zum Nationalpark Stilfserjoch: "Die Alpenwiesenkräuter auf 2000 Metern Höhe". Dort gibt es nur eine Heuernte im Jahr, aber die Leute sind früher hinauf, sogar bis auf 2800 Meter, um die Wiesen zu mähen. "Heute erst weiß man, was für ein hochwertiges Lebensmittel diese Wiesenkräuter von ganz oben sind", sagt er. Biologen hätten herausgefunden, dass auf diesen naturbelassenen Böden bis zu 90 verschiedene Gräser- und Blumenarten wachsen. Dort hinauf führt er Gäste auf seinen Kräuterwanderungen, erklärt und sammelt mit ihnen. Die Traude kocht aus dem Mitgebrachten Wildkräutermenüs für die Wanderer. Das Thema Wildkräuter werde für die beiden immer mehr das zentrale Thema. "Das Kochen mit Heu, ein Pesto von der Knoblauchrauke, Franzosenkraut oder Weißer Gänsefuß im Salat, eine Brunnenkressesuppe das sind Kulinarien, die sich sehen lassen können."
So hat der pfiffige Geschäftsmann durch seine Ideen neuen Schwung nach Stilfs gebracht. Drei bis sechs Dörfler helfen in der Saison beim Pflücken, Trocknen, Verpacken. Sogar das Kulturfestival "Stilfs Vertikal" hat er aus der Taufe gehoben. Die Skepsis der Stilfser beginnt zu bröckeln. Immerhin bringt der Siegi Gäste in den Ort, die vielleicht etwas kaufen oder im Gasthof essen. Zum Schluss sagt er, man könne das Leben nicht nach der Gebrauchsleitung anderer leben. Und dass es ein Trugschluss sei, ein Arbeitsleben lang eine sitzende Tätigkeit auszuüben und dann in der Pension herumhüpfen zu wollen wie ein Jüngling. Aber für ein anderes Leben brauche es Mut: "Da muss man Dinge loslassen, vor allem das vermeintliche sichere Geld."