Beruf:Irgendwas mit Mathe

Kreuzung bei Nacht

Ob lokale Verkehrsströme oder globale Finanzströme - alles wird von Algorithmen gesteuert.

(Foto: Frank Rumpenhorst /dpa)

Sie berechnen das Wetter, den Verkehr, den perfekten Partner oder die Infektionszahlen: Zahlenaffine Modellierer und Simulierer sind gefragt - das zeigt gerade die Pandemie.

Von Nicole Grün

Pflegekräfte, Kassierer, Erzieherinnen und neuerdings auch Couch-Potatos gelten als Helden der Corona-Krise. Ebenfalls ins Rampenlicht gehört eine Spezies, die sonst eher unbemerkt an den Stellschrauben der Welt dreht: Modellierer, die mit ihren Simulationen Wege aus der Pandemie aufzeigen. Ihre Berechnungen bieten die Grundlage für Entscheidungen über Lockdown oder Lockerung.

Tatsächlich läuft fast nichts ohne die mathematisch versierten Tausendsassas. Flugzeuge würden ohne ihre Simulationen in der Luft zusammenstoßen oder erst gar nicht abheben, der öffentliche Nahverkehr wäre ein einziges Chaos, wir könnten weder Bargeld abheben noch Hochhäuser bauen, es gäbe keine bildgebenden Verfahren in der Medizin. Produktionsprozesse werden genauso wie globale Finanzströme von Zahlenkolonnen gesteuert, die Regeln folgen, die Modellierer sich ausgedacht haben. Partnerbörsen vertrauen auf deren Algorithmen, um ihren Kunden den perfekten Gespielen vorzuschlagen. Neue Produkte werden am Rechner entworfen, und mittlerweile erobert künstliche Intelligenz auch lange als uneinnehmbar geltende Bastionen wie die Kunst: Intelligente Algorithmen komponieren Musik, schreiben Gedichte oder erschaffen Gemälde.

"Es ist schwierig, Dinge zu finden, wo Modellieren und Simulieren keinen Einfluss haben", sagt Gerta Köster, Professorin für Mathematik und Informatik an der Hochschule München. Kein Wunder, dass Experten auf diesem Gebiet in den unterschiedlichsten Branchen sehr gefragt sind - umso mehr, als es sich bei ihnen um eine recht seltene Spezies handelt. "Tendenziell bilden wir immer zu wenig Leute aus, und auch zu wenige mit diesen begehrten interdisziplinären Kompetenzen, die nicht nur unter sich reden können, sondern den Nutzen, den man der Gesellschaft als Mathematiker oder Informatiker bringt, auch gut darstellen können."

Den Begriff "vielleicht" versteht der Computer nicht

Doch was machen Modellierer eigentlich? Um diese Frage zu klären, muss man sich damit auseinandersetzen, wie ein Modell entsteht - nämlich durch den Dreischritt Beschreibung, Algorithmus und Programm. "Da wir immer irgendetwas aus der Realität modellieren, müssen wir diese erst einmal beobachten", erklärt Köster. Diese Beobachtungen gelte es möglichst einfach auszudrücken, indem man sie grafisch oder verbal beschreibe oder eben in mathematischen Formeln. Das passiere meist mit Bleistift auf einem Stück Papier.

Da man mit dem Modell allerdings verschiedene Sachen durchspielen wolle, müsse man es in den Computer bringen. "Deshalb versucht man, diese Beschreibung in etwas umzusetzen, was der Computer verstehen kann: in Algorithmen." Das sind Rechenvorschriften oder Abläufe, die dem Computer eindeutig sagen, was er in jeder Situation zu tun hat. Denn "vielleicht" oder "ähnlich" verstehe der Computer nicht. "Dieser Algorithmus ist ein wichtiger Schritt in der Modellbildung, und da kommt sehr viel Mathe ins Spiel - aber auch noch auf dem Papier."

Um die Algorithmen, die von den Modellierern, Mathematikern, Physikern oder Anwendungswissenschaftlern geschrieben wurden, in einen Computer zu bringen und daraus ein zuverlässiges Programm zu entwickeln, sind Informatikkenntnisse gefragt. "Es ist ein Dreieck: Wir brauchen die Anwendungsgebiete wie Physik, Ingenieurwissenschaften, Psychologie oder Soziologie, die Mathematik, um diese Themen zu beschreiben, und die Informatik, um sie auf dem Computer umzusetzen", bringt es die Professorin auf den Punkt. Für die 52-Jährige ist diese Interdisziplinarität das Schöne an ihrem Beruf: "Man muss ein Teamplayer sein, gerne mit anderen Leuten zusammenarbeiten und darf keine Scheuklappen haben."

In Kösters Schrank steht denn auch ein 700-Seiten-Wälzer über "Psychology and Life" neben den "etwas härteren Mathe-Sachen", wie sie sagt. Für sie gehören beide Dinge zusammen, gerade in ihrem Spezialgebiet, der Fußgängersimulation. "Da muss man sich zusammenraufen: Wir müssen die Psychologen zwingen, sich eindeutig auszudrücken, und sie zwingen uns wiederum, wichtige Dinge zu sehen, die wir gerne aussparen würden, weil sie schwierig auszudrücken und in einen Algorithmus zu überführen sind."

Das Klischee vom weltfremden Nerd ist überholt

Immer im Vordergrund: die praktische Anwendung, der Nutzen, und das auch schon im Studium: "Stärker als meine Generation haben unsere Studierenden das Bedürfnis zu sehen, was man nachher daraus macht." Deshalb hat die Professorin mit ihren Mathematik- und Informatik-Studenten im Fach "Modellierung und Simulation" ein paar Wochen nach Ausbruch der Corona-Pandemie einen SIR-Simulator programmiert, der auf einem Modell aus der mathematischen Epidemiologie basiert. In ihm werden Menschen in einem Zellautomaten als 10 000 sich im Quadrat bewegende Punkte dargestellt, die miteinander in Kontakt kommen und entweder infiziert, infizierbar oder immun sind. Die Studenten simulierten damit, wie sich die Zahl der Infizierten bei verschiedenen Maßnahmen wie Quarantäne, Ausgangssperre oder Impfung verändert.

Wetterextrem in Österreich

Viele Entscheidungen werden mithilfe vorher durchgespielter Szenarios gefällt - ob die Evakuierung eines Festzelts oder eines zugeschneiten Dorfs.

(Foto: WetterOnline Meteorologische Dienstleistungen)

In einem anderen Lehrprojekt spielte Gerta Köster mit ihren Studierenden die Evakuierung eines Wiesnzelts durch. Den Grundriss besorgten sie sich im Internet, bestückten das Bierzelt virtuell und in 3-D mit Bänken und 5000 in Dirndl oder Lederhose gekleidete Besuchern, die sie Hänsel und Gretel tauften. Dann ließen sie alle aus dem Zelt fliehen und sahen zu, was passiert, wenn Störfaktoren auftraten - hier ein blockierter Gang, dort ein "bewegliches Hindernis" wie ein torkelnder Betrunkener. In den um einiges komplizierteren Simulator "Vadere", den Köster und ihr Team entwickelt haben, flossen auch Erkenntnisse von Psychologen und Soziologen ein, zum Beispiel jene, dass Familien in Notsituationen zusammenbleiben oder sich Menschenmengen in Pärchen oder Dreier- und Vierer-Gruppen aufteilen. Wenn es eng wird, ändern sie ihr Tempo, ist jemand verletzt, bleiben manche stehen und wollen helfen.

"Auch wegen des Love-Parade-Unglücks gibt es inzwischen viele Firmen, die vor großen Events Räumungen simulieren und sich die Fluchtwege genau ansehen", sagt Köster. Dabei kann man Gefahrenquellen wie Engstellen identifizieren und kann sie beheben, indem man etwa breitere Gänge oder zusätzliche Rettungswege schafft. Köster und ihre Wissenschaftler arbeiten mit mehreren Partnern zusammen, die ihre Algorithmen anwenden - wie das Münchner Start-up Accu:rate, das unter anderem Fluchtwege für Schloss Neuschwanstein oder die Landshuter Hochzeit berechnet hat. Das Bild von Modellierern als weltfremde, lebensuntaugliche Nerds hat sich längst überholt, meint Köster: "Es sind durchweg verantwortungsvolle Menschen, die diesen Beruf anstreben. Und sie wirken nicht nur in der Krise wesentlich an gesellschaftlichen Prozessen mit."

Die Deutsch-Note ist so wichtig wie Mathe-Erfolge

Doch was braucht man, um einer von ihnen zu werden, und was sollte man studieren? "Ordentliche Noten in Mathe und Informatik wären ganz gut, aber ich schaue vor allem auf die Deutsch-Note", verrät Köster. Ausdrucksfähigkeit sei in ihrem Job besonders wichtig - und mehr als alles andere Biss. "Man darf nach einem Rückschlag nicht aufgeben, sondern muss erst recht weitermachen. Es sind die stursten Studierenden, die ihren Bachelor und Master machen, nicht die schlausten."

Um Modellierer zu werden, gibt es nicht den einen richtigen Weg. Gerta Köster hat Mathematik studiert und ist erst später auf die praktische Anwendung umgeschwenkt: "Ich wollte endlich etwas bauen." Nach der Promotion zog es sie in die Telekommunikationsbranche, wo sie zum Mobilfunkstandard UMTS forschte. "Als es den First Call gab, also jemand das erste Mal mit der von uns entwickelten Technik telefonierte - das war so schön", erinnert sich Köster, und immer noch klingt Begeisterung aus ihrer Stimme.

Der Einstieg in den Job sei zwar sportlich gewesen, denn ihr Spezialgebiet waren partielle Differentialgleichungen, und sie musste sich plötzlich mit Protokollen und Informatik beschäftigen, von denen sie keine Ahnung hatte. Dennoch ist sie überzeugt: "Reine Mathematik oder Informatik zu studieren, ist nicht falsch, man lernt dort zu denken." Mit diebischer Freude berichtet die Mathematikerin von einem kuriosen Zusatzkurs über Mannigfaltigkeit in ihrem Diplomstudiengang, den sie nur aus Spaß belegte - und Mannigfaltigkeit sei jetzt in der KI ganz wichtig.

Näher dran an der praktischen Anwendung sind ihrem Namen gemäß Studiengänge wie "Angewandte Mathematik" oder "Angewandte Informatik" - wobei angehende Studenten einen Blick ins Modul-Handbuch werfen sollten, um zu sehen, ob die Art der Anwendung nach ihrem Geschmack ist. Geht es eher in eine wirtschaftliche oder technische Richtung? "Wenn dort eine klassische Modellbildung und Simulation drinsteht, freue ich mich. Aber auch Sachen wie machine learning oder Statistik sind klare Methoden der Anwendung von Mathematik auf Probleme aus dem echten Leben", weiß Köster. Sie empfiehlt, wegen ihrer praxisorientierten Ausrichtung sogenannte Und-Studiengänge zu studieren, wie zum Beispiel "Design und Informatik", Finanzmathematik oder Bioinformatik. "Dort werden andere Wissenschaften miteinbezogen, und es geht wirklich um Problemlösung, nicht nur um Algorithmen. Da ist man sofort in der Modellbildung drin."

Riesige Datenmengen helfen bei der Früherkennung

Aufsehen erregten auch Wissenschaftler aus dem Bereich Medizininformatik der Ostbayerischen Technischen Hochschule (OTH) Regensburg: Sie entwickelten ein System, das mithilfe künstlicher Intelligenz Speiseröhrenkrebs im Frühstadium diagnostizieren kann. Dafür fütterten Professor Christoph Palm und sein Team einen Rechner mit Hunderten von Endoskopie-Bildern und Patientendaten und programmierten daraus eine Software. Bei der Untersuchung der Speiseröhre mit einer Kamera kann diese künstliche Intelligenz dazugeschaltet werden. Sie erkennt anhand der Endoskopie-Bilder, ob ein Tumor vorliegt. Handelt es sich um Krebs, leuchtet die Region gelb oder rot auf. Speiseröhrenkrebs zählt zusammen mit Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs zu den Krebsarten mit der niedrigsten Überlebensrate. Doch wenn Speiseröhrenkrebs früh erkannt werde, liege die Heilungschance bei fast 100 Prozent, sagt Palm.

Gerade die Früherkennung von Krankheiten ist ein wichtiges Gebiet, auf dem Modellierer und Simulierer gefragt sind. "Dazu muss man riesige Datenberge durcharbeiten, das geht nicht ohne Computer", sagt Köster. Daten gelten als Öl des 21. Jahrhunderts. Damit Studierende lernen, bewusst mit ihnen umzugehen und sie richtig einzusetzen, startete an der Hochschule München der Studiengang "Data Science & Scientific Computing". Wer diesen oder ähnliche Studiengänge abschließt, dem stehen unzählige Branchen und Arbeitsgebiete offen: das Gesundheitswesen, die Finanz- und Versicherungsbranche, wo ohne Prognosen und Modelle nichts läuft, der Versandhandel oder E-Commerce, wo sich Modellierer mit Online-Marketing oder Business Analytics beschäftigen, oder die Produktion, wenn es um Qualitätssicherung oder die Entwicklung neuer Produkte geht.

Auch für Wettervorhersagen, autonomes Fahren oder Crashtests braucht es Modellierer und Simulierer. Und natürlich kommt die immer wichtiger werdende Robotik hinzu - für Gerta Köster "eine wunderbare Ehe zwischen Mathematik und Informatik mit einer Anwendung". Dort könne man sehen, dass der Spieltrieb vieler Nerds nicht umsonst war: "Wer früher in Computerspielen Roboter gesteuert hat, programmiert heute vielleicht Pflegeroboter." In allen modernen Branchen sei die Digitalisierung auf dem Vormarsch.

Doch wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten: "Ich finde es wichtig, diesen Vormarsch zu kontrollieren und zu hegen, damit keine Effekte entstehen, die wir nicht haben wollen", sagt Köster. "Und dazu brauchen wir gut ausgebildete Leute, die wissen, was sie tun." Nerds mit Ausdrucksstärke und Biss also, die Lust darauf haben, an gesellschaftlichen Prozessen mitzuwirken - und hin und wieder sogar Leben zu retten.

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